Umkreisen

(M55)

Alle neunundneunzig Bücher des Erdenkreises habe ich gelesen und das neunundneunzigste, welches den Äquator in Alexandrinern bemisst, habe ich auswendig gelernt. Die rhythmischen Zyklen, die das Versmass durchläuft, imitieren die Sonnenläufe zwischen den Polen und formen so die Welt zu einer Kugel aus ungezählten Kreisen.

Die neunundneunzig Bücher der Bibliothek von Wergenstein enthielten die Welt in ihrer Gesamtheit. Umfassend war das Wissen, das sie dem Leser schenkten, und still das Vergnügen, das ihre Lektüre bereitete. Wer das kreisrunde Gestell umschritt, umkreiste die Dinge und umrundete die Welt. Als Antonia die Bibliothek von Wergenstein betrat, fragte sie: „Beschreiben diese Bücher auch den Raum, der von den Dingen ausgeht?“ Etwas ratlos erzählte ich ihr von den Totenköpfen in Madagaskar, von den Mangrovenwäldern im Amazonas und von den Hunden der Mongolei.

Markus A. Hediger, Die Bibliothek von Wergenstein, Skypaper Press, 2006, mehr …

Hir blüht Natur und Kunst / und was man seltzam nänt

(M53)

DIß ist der traute Sitz / den Themis ihr erkohren.

Da Svada sich ergetzt / der hohen Weißheit Zelt

Das aller Künste Schaar in seinen Schrancken hält,

Vnd was berühmte Leut aus ihrem Sinn gebohren!

Hir leß ich / was vorlängst Gott seinem Volck geschworen

Hir sind Gesetz und Recht’ hir wird die grosse Welt

Beschriben / ja was mehr; gebildet vorgestelt /

Hir ist die Zeit / die sich von anbegin verlohren.

Hir find ich was ich wil / hir lern’ ich was ein Geist

Hir seh ich was ein Leib / und was man Tugend heist,

Schau aller Städte Weiß’ und wie sie stehn und fallen.

Hir blüht Natur und Kunst / und was man seltzam nänt

Doch als ich disen Mann / der alhir lebt erkänt /

Fandt ich durch alles ihn / und weit gezihrt vor allen.

Andreas Gryphius, In Bibliothecam Nobiliß. Amplißimique Viri GEORGII SCHONBORNERI, De & in Schönborn & Zissendorff. S. Caes. Mai. Consiliar. Comitis Palatini, Fisci per Silesiam & Lusatiam Praefecti.1643, via Projekt Gutenberg

Der Hungernde

(M52)

Das ist ja das Merkmal jenes “Bruches”, von dem Jedermann als von dem Urleiden der modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden d.h. vor ihren Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze “Weltlitteratur” zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe: er bleibt doch der ewig Hungernde, der “Kritiker” ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet.

Aus: Friedrich Wilhelm Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Kap.18