Dranmor VIII,5

(Kritisches Wäldchen)

Ob ich mich schon in der Lage fühle, dieses Buch aus den Händen zu geben? Ob ich das kurz einmal versuchen möchte. Ich möchte auf meinen pulsierenden Daumen hinweisen, dessen Inneres so mächtig nach aussen drängt und die vertraute Narbe beinahe zum Bersten bringt. Und die noch nässenden Schwielen und die von den Plastikhandfesseln geröteten und an manchen Stellen geöffneten Handgelenke. Einen Moment. Vier Zeilen noch. Ich müsse jetzt viel trinken, dann wäre es bekömmlicher. Und auch die Zuckungen weniger gravierend. Und niemand möchte das Waldleben verstehen. Und die Vorzeichen, der Zustand zu dem alles zieht. Die Verwachsungen und Verwurzelungen. Dann laut zu den zwei Medizinmännern: Ich schlief nicht, träumte nicht, ein Schleier lag / Auf mir, doch blieb ich meiner Sinne mächtig – / Und da, in meiner Nähe, übernächtig, / Erschien mir plötzlich, blendend wie der Tag, / Ein Bild, das schmerzliche Erinnerung weckte. /

Flüstern. Gut. Es sei gut jetzt. Es würde bald wirken. Und man würde es mir nicht wegnehmen. Ich habe mich ja schon auf der Wache verständlich gemacht, dass ich es unter keinen Umständen mir entfernt haben wollte. Man habe das respektiert und erwarte nun ein etwas kooperativeres Verhalten. Und ich solle doch dankbar sein, dass mich ihre schnelle und zuverlässige Diagnose hierher gebracht habe. Dort wäre man sicher nicht so zimperlich gewesen. Ob ich denn überhaupt wisse, wo ich sei. Ob ich denn immer noch denke, wir befänden uns in einem Wald am Stadtrand von Rio? Ob ich nicht vielleicht doch für eine Sekunde Buch und Schreibgeräte aus der Hand nehmen möchte; man werde sich auch einmal die Hand anschauen.

Tuscheln. Das habe man schnell erkannt, dass da wieder so einer aufgegriffen wurde. Das beobachte man nun häufiger. Das bekomme man schon wieder hin. Zu mir. Vielleicht noch einen kleinen Schluck Wasser … Die Nervösen. Die Unkonzentrierten. Man wolle mich nicht mit einer Fachsprache belästigen, aber die Fälle mehrten sich. Diejenigen, die alle ihre Bezugspunkte verloren hätten. Man kann da nicht eigentlich einen Vorwurf machen. Es sei eigentlich recht harmlos, da gäbe es Schlimmeres. Und meistens wurde es gar nicht erkannt, die Dunkelziffer sei also beträchtlich. Und deshalb wüssten sie auch, dass es nicht gut wäre, wenn man mir dieses Buch nähme. Kontraproduktiv, zunächst. Aber, wenn es erst einmal wirken würde, das Injekt, ginge es auch wieder besser. Könnte ich dann ja vielleicht doch die eine oder andere Frage beantworten.

Eine wirklich schnelle und zuverlässige Diagnose. Ich könne wirklich froh sein, dass man dafür einen Begriff habe. Die Medizinmänner in Rio. Aber eine Frage überlegt sich fast von selbst: Warum sie mir denn auch das Buch gelassen haben. Nach dem Kampf, den Randalen, wie sie sagten, den Verbissen- und Unkonzentriertheiten, so zerfleddert, wie es nun war. Aber immer noch lesbar. Immer noch in Ordnung und dicht gedrängt und von Vögeln beheimatet. Und die Blätter und das Papier. Und vor allem der Bleistift. Dass sie es nicht geschafft hätten, sie mir zu nehmen, sei schon verdächtig. Ich könne mich damit ja erschlagen, daran verschlucken. Oder mich erdolchen. Das mache doch keinen Sinn. Ob sie sicher seien, dass sie nicht Teil einer Verschwörung wären.

Eine etwas überdurchschnittliche Nervosität. Auch eine gewisse Überreiztheit, das müsse ich doch zugeben. Aber dass es mir schon bald viel besser ginge. Dass die erste Einnahme schon ein Schritt in die richtige Richtung war, ob ich das nun einsehe oder nicht. Man könne es ja auch an der Schrift erkennen. Schon viel deutlicher, viel lesbarer. Auch ein Grund, warum man mir diese Möglichkeit gelassen habe: Da kann man sehr viel erkennen. Auch wenn es zunächst egal sei, was dort denn stehe. Auch der heute morgen dort formulierte Gedanke, dass die Kommentatoren und Kritiker meistens die besseren Gräber bekämen. Das sei sehr interessant. Man denke, die Fixierungen seien nun überflüssig.

Man will offen mit mir sein, die Medizinmänner aus dem brasilianischen Urwald. Die Kritik sei das Eigentliche. Das sei in ihrem Fache ähnlich. Gäbe es dasjenige nicht, das über etwas befinde, wäre es bald hinüber. So ein Körper, beispielsweise, oder ein Geist: gäbe es die Medizin nicht, man stosse da sehr schnell an seine Grenzen. Das müsse man doch respektieren. Und jetzt schmerze es vielleicht noch ein mal kurz, aber dann, ich werde mich wundern, wie gut es mir dann gehe.

Im weissen Schlund begrünt es sich, wachsen Blätter aus der Wand, seiner Innenhaut, seiner Membran und Schränke und Tische schweben, bewegen sich im Rhythmus der grellen Baumkronen. Im Unterholz raschelt es, die Medizinmänner ziehen sich zur Beratung in den Busch zurück. Alles viel angenehmer als im Keller. Heller und wärmer. Und schwül wie unter dem Dach, in dem das Gebälk Geschichten erzählt. Und die dunstige Luft. Und die Insekten, deren Zeit nun beginnt. Moskitos. Wissen sie, wann ihre Stunde schlägt? Oder ist dort die Einheit eine Sekunde? Gibt es Hinweise auf ein Zeitgefühl der Insekten? Ich notiere diese Fragen so gut es geht. Wichtige Fragen, die ich einmal stellen werde. Den Medizinmännern zuerst. Vielleicht haben sie ja recht. Vielleicht ist es alles eine Frage der Konzentration. Die Zeitwahrnehmung der Fliegen. Ich möchte sie fragen. Jetzt. Jetzt, da die Fragen klar formuliert werden können. Jetzt, wo sich der Raum verwildert, wird die Entspannung spürbar. Wo sich Hände von Buch und Blättern legen und sich in ein Kissen krallen. Jetzt ist Zeit. Durch das Gestrüpp nähert sich Licht.

Arme werden wieder arretiert. Auch die Beine. Zwei fremde Finger suchen ein Auge zu öffnen, sperren Lider weit auseinander. Ein Strahl möchte eindringen. Eine nervöse Reaktion des Apfels. Die Verengung der Iris. Keine Frau? Auch keine Freundin? Nicht einmal Verwandte oder Bekannte in der Stadt? In dem Land? Und wer eigentlich Dranmor sei?

Dranmor VIII,4b

(Raus da! oder In Frieden II)

Arbeit am Stein. Es ist nur der Versuch darunterliegende, zugrundeliegende Schichten freizulegen. Mit einer Hand. Mit Zeigefinger und Daumen etwas abzulösen und zu reinigen, Einprägungen freizusetzen und sie erkennbar zu machen. Sie zu lesen.

Der dünne Raum zwischen Häuten und Nägeln, nur ein Blatt Papier passe dazwischen, sagt man, dehnt sich aus, wölbt sich unter dem Druck der Sandsteinsplitter und des trockenen Mooses. Und die Behutsamkeit: Die Gefährlichkeit dieser Operation, eigene, ungewollte Spuren zu hinterlassen und das Ursprüngliche zu kreuzen und zu verfälschen. Etwas zu entstellen und ganz anderes zutage zu fördern. Dass diese Arbeit nicht zum eigenen Schreiben würde.

Die Knie sind schon lange feucht; das Klamme fand direkten Zugang zu den nun marmornen Schenkeln. Und der Hosenstoff teilt sich, in Fetzen. Der Rücken schmerzt auch ein wenig. Augen suchen sich ihren Weg durch die einbrechende Nacht auf den Stein. Eher das Fühlen. Eher ein Tasten und Zupfen. Die Gasvorräte erschöpfen sich, aber verschiedene Zeichen sind schon zu ahnen.

Der verhornte Daumen der linken Hand nimmt kaum noch die heissen, glühenden Stellen des Feuerzeugs wahr, das nun langsam versucht einem Schriftzug nachzufahren. O – T – T – O. Nicht etwa Ferdinand, Dranmor, Schmid oder Fernando sind nach dieser Folge möglich. Vielleicht ein Motto? Ein Epitaph? Oder ein anderer Geselle, der hier mit ihm ruhte? Ein weiteres Flechtenstück löst sich ab. V – O – N. Doch ein Zitat? Ein Motto Tennysons oder Dranmors vielleicht, das hier ein Ruhen titelte? G – R – E (oder A, das ist schwer zu entscheiden, der Daumen an der sengenden Flamme, weiss) – Y.

Natürlich! Es muss ein Auszug aus Edward Gray sein! Nichts Passenderes könnte hier stehen. Eine kleine Selbstreferenz oder Referenz der letzten Gefährten. Ich sammle die Zeilen und überlege, auch Dranmor hätte diese Stelle zitiert. Ich stocke und muss die Arbeit unterbrechen. Krame die Dichtungen hervor und suche nicht lange, denn ein Buchzeichen teilt noch die prominente Stelle. Dort barg ich mein Antlitz im feuchten Gras und Da schrieb ich auf den bemoosten Stein flackern die Zeilen im Schein der leuchtenden Hand. Die Hand eine Fackel aus Fleisch und sie glüht und ein Funke sucht Nahrung auf einem Ärmel. Verhungert dort.

Die letzte Strophe murmele ich lauter: Bitterlich weinte ich über dem Stein / Bitterlich weinend geh ich fort: Ein letzter Teil der Moosflechte löst sich und gibt den Rest dieser Inschriftzeile frei. E – R – Z.

Erstarren. Ich summiere. Ich reihe von links nach rechts aneinander und lösche die Spatien: Otto von Greyerz. Mit Schaudern. Ich habe den Biographen Dranmors, nein, nicht ausgegraben, identifiziert. Den kritischen Teilhaber seines Lebens. Das bedeutete: ich suche am falschen Ort. Wie charakterisierte er ihn gleich? Die Aufzeichnungen dazu, die Exzerpte finden sich eingebettet im hinteren Teil des Bandes. Rascheln. Nach Jahrgängen die Kritik. So in den Zwanzigern vielleicht. Hier, ich überfliege:

einsamer Schwärmer … träumerisches Wesen … schwermütige Anwandlungen … reifte eine monotone, fragmentarische Lyrik mit unverkennbaren Spuren der Erschöpfung … bis zu seinem Tode am Mark seines Lebens zehrende verschuldete er selber durch die in leidenschaftlicher Verblendung geschlossene Ehe … achtundzwanzig gedankenschwere Ergüsse … pantheistische Diesseitsreligion … Doppelnatur Dranmors: die Dichtergabe und der Geschäfts- und Gründungsgeist … Sein Ehrgeiz war das Weltbürgertum … Byron, Platen, Waiblinger … Die Krankheit des Jahrhunderts … die Aufrichtigkeit, der hohe Ernst seines Leidens und Ringens … Allein seine Gestaltkraft war der hohen Aufgabe nicht gewachsen … Seine Stoffwelt ist beschränkt … für welche nicht der Inhalt, das Motiv, sondern die Form, der schöne Vers die Hauptsache sei …

Ein Verächter! Ein Wichtigtuer! Wie konnte er solche Dinge schreiben, er, der noch nie über die Ränder seines Grabes getreten war? Weltbürger? Ich lache leise. Die Hand legt eine Jahreszahl unter dem Greyerzschen Namen frei. 1863-1940. Eine ganz andere Generation. Eine spätere Schicht. Eine Welt darüber und sicher nicht die Welt Dranmors, die hier war und dort war, aber immer an ein Stück Erde genagelt wurde. So ist sie nicht von dieser Welt!

Der Greyerzsche Zugang macht mich rasend. Zitternd. Hier liegt einer und gehört nicht dahin! Hier werden künstlerisch bedeutungsvolle Grabmäler aus den Friedhöfen der Stadt ausgestellt. Sie sollen als Dokumente ihrer Zeit der Nachwelt erhalten bleiben, höhnt es weiter auf einem Schild. Was für ein Witz. Und Ferdinand Schmid liegt wahrscheinlich auf einem Acker vor einer verfallenen Kapelle. Greyerz muss da raus!

Es ist dunkel. Frisch ertastete Zeichen verschwimmen und lenken den Fokus zur Seite. Unter einem kleinen Hag die Silhouette eines Gerätehäuschens. Greyerz muss da raus. Das meinen auch die Appenzeller, einstimmig, bieten ihre Hilfe an. Ich öffne ein Fläschchen und nicke.

Das unverschlossene Gerätehaus. Eine Schaufel. Ein halber Mond. Ich lege ein Taschentuch um die linke Hand. Keine Menschenseele.

Die Erde ist leicht und luftig, und die sie spaltenden Schnitte klar und bestimmt. Ich keuche ein wenig. Und die Mulde und das Ausgehobene, diese Asymmetrie am Rand der Stelle. Und alle rufen und feuern an: Greyerz muss raus! Greyerz muss da raus! Vielleicht finden sich hier auch Ellen Adairs Gebeine. Und das Keuchen. Und der Schweiss. Doch auch Edwards Herz liegt dort, so die Schaufel. Und das Atmen. Auch die anderen Stimmen: Raus! Raus! Raus da! Raus!

Und ein kleines, blaues, blinkendes Licht. Und Raus! Raus da! Und ich soll die Schaufel fallen lassen. Und heraussteigen. Und ich werde unsanft gepackt. Und man bindet meine Hände auf dem Rücken zusammen.

Dranmor / Die Gräber

Impressionen vom Schosshaldenfriedhof an der Ostermundigen- strasse, der hier wahrscheinlich fälschlicherweise als Oster- mundiger Friedhof ausgegeben wird. Die Bildstrecke zu Dranmor VIII,4a und VIII,4b …



Wege stehen im rechten Winkel zueinander, die Zwischenräume wurden mit knorpeligen Bäumen verziert.



Ein spiralförmig begehbarer Hügel eröffnet sich; an seiner Spitze eine Trauerweide.



Ich erreiche das Feld der Aufgelassenen, Auskultierten und Bemoosten. Eine Hinweistafel mit der Aufschrift Erhaltenswerte Grabmäler.



Dieser Stein könnte es doch sein. Natürlich könnte es auch jeder andere sein …



Aber unter der dichten Moosschicht, die ich langsam mit blossen Fingern und Nägeln entferne, finden sich Einlassungen.

Dranmor VIII,4a

(Luftlinien oder In Frieden I)

Milliarden kommen und verschwinden wieder / Im grossen All nach kurzer Lebensreise; / Giganten, Zwerge, Kinder oder Greise, / Wir sind nur einer Kette morsche Glieder. / so der Anfang von Romans Brief. Ich erkenne die Passage aus der Reisestudie. Warum er auf einmal Briefe schreibt? Und dazu Mottos findet? Er fährt fort, dass er verschwinde. Nicht für immer, nein, aber dass er nach Barcelona ziehe. Eigentlich schon dort sei, ich wisse warum. Und dass man ihn vorerst nicht erreichen könne, darum dieser Brief. Weder per E-Mail noch telefonisch. Genaueres gäbe er aber noch bekannt. Er wünsche mir alles Gute und es täte ihm leid, dass alles so schnell gegangen sei. Dass wir uns also nicht mehr sehen konnten. Er würde sich melden, wenn er wieder in Bern sei. Dann wird die Schrift nachlässig und endet in einer Unterzeichnung – eigentlich nur noch unförmige Linie. Der Umschlag wurde wohl wiederverwendet. Die Briefmarke stammt aus einem Automaten und wurde maschinell gestempelt. Mechanisch abgefertigt, am Ende weitere Wünsche und ein Maschinengruss.

Der langsame Tag vergeht über das Grübeln seiner Geschwindigkeit. Und in lustlosem Blättern. Hier und dort mit spitzen und stumpfen Fingern. Mit trockenem und wieder feuchtem Daumen. Die Anfeuchtungen und der bittere Geschmack danach. Woran es denn liege war seine zweite Frage. Aber auf einmal ganz klar: nicht woran, sondern wo es liege, muss die Frage lauten. Und weiter: dass ich nicht einmal auf den Gedanken gekommen bin. Den Naheliegendsten! Und dass das Wirklichste, das Physischste also Körperlichste – wenn es noch etwas gäbe – doch in allernächster Nähe liege. Fast greifbar, sozusagen. Das Fleisch und die Knochen, das Gerüst all der Dinge, die nicht mehr begriffen wurden. Wenn noch etwas übrig war.

Ich suche den Stadtplan und finde ihn in einem Seitental des Allerlei II, blättere hastig. Vetter hatte vom Ostermundiger Friedhof gesprochen. Von der rührenden Trauerfeier, den Grabgesängen und Reden. Das sind nur wenige Kilometer Luftlinie. Ich zeichne die Strecke mit dem Daumennagel nach. Ich zeichne eine Linie in die Luft und versuche dabei das Gleichgewicht zu halten. Der Daumennagel fährt über die Karte, hinterlässt aber keinen bleibenden Eindruck. Keine Vertiefung. Ich finde auch einen Leuchtstift.

Ich stelle den Kragen hoch. Die Luftlinie wird an einer Kreuzung unklar. Aprilnebel verwirft den Blick und Fragen auf: das Obere Galgenfeld ist verbaut. Ich muss improvisieren. Erst unschlüssig, ob Bitziusstrasse oder Ostermundiger Hauptstrasse, entscheide ich mich bald für den Schriftsteller. Dann Verwirrung durch die Strassennamen. Bilder werden aufgeworfen. Gehobener Horizont, heisst eine. Dann verlaufe ich mich in der unheilen Eile. Ein Schild am Wegrand. Die Stadtverwaltung hatte den bildhaften Sprachwahn ihres Hausmalers in die Topographie gegossen. Ich finde einen Wurm am Weg und einen Teppich der Erinnerung. Am Ende nur noch buntes Flickwerk vor Augen und die Radierung einer seltsamen Figur ohne auch nur einen Meter zurückgelegt zu haben, pflücke ich feuchten Klee am Wegrand. So feucht schon? Und so spät? Nun ist wirklich Eile angesagt. Ich erreiche den Eingang des Friedhofs kurz vor seiner Schliessung.

Es würde sich nicht mehr lohnen, man schliesse bald, gibt mir ein Wächter unfreundlich zu verstehen. Ich spute mich, entgegne ich. Und: es würde nicht lange dauern. Und ob er mir sagen könne, wo er denn liege.

Aber er kenne diesen Ferdinand Schmid nicht, und ob ich denn sicher sei. Er habe nie von ihm gehört, aber die historischen Prominentengräber lägen in dieser Richtung. Aber 19. Jahrhundert? Das sei wahrscheinlich längst aufgelassen und auskultiert, wie man das nenne. Sicher könne ich einmal schauen, um einen Eindruck zu gewinnen, aber er sehe da eigentlich keine Chance. Und dass es gleich eindunkle – man würde kaum mehr die Inschriften erkennen können, und bei den Alten sowieso nicht. Ich lasse ihn links liegen.

Eine kleine Stadt, wie auf dem Reissbrett entworfen. Wege stehen im rechten Winkel zueinander, die Zwischenräume wurden mit knorpeligen Bäumen verziert. Bald das Feld mit den Namenlosen. Bald opulente Sträusse und historisierte Steinvasen und Engel. Ein spiralförmig begehbarer Hügel eröffnet sich; an seiner Spitze eine Trauerweide. Die Kindergräber: bunter Nippes und traurige Windräder und Bären. Der wohl schlimmste Ort.

Ich erreiche das Feld der Aufgelassenen, Auskultierten und Bemoosten. Eine Hinweistafel mit der Aufschrift Erhaltenswerte Grabmäler. Hier werden künstlerisch bedeutungsvolle Grabmäler aus den Friedhöfen der Stadt ausgestellt. Sie sollen als Dokumente ihrer Zeit der Nachwelt erhalten bleiben. Bern, im Juli 1983. Die Friedhofsverwaltung.

Dieser Stein könnte es doch sein. Natürlich könnte es auch jeder andere sein, aber dieser gefällt mir besonders. Ich hole meine Feuerzeug hervor. Es ist tatsächlich nichts mehr darauf zu erkennen. Aber unter der dichten Moosschicht, die ich langsam mit blossen Fingern und Nägeln entferne, finden sich Einlassungen.

Dranmor Erläuterungen (auch Waschzettel)

Vorläufiges Kurzexposé (3/06)

Ferdinand Schmid alias Dranmor (1823-1888), ist ein längst vergessener Schweizer Dichter und Diplomat, der und dessen Werk in diesem Fragment-Roman allerdings nur als Bearbeitungsoberfläche des Ich-Erzählers auftaucht. In der in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts abbrechenden Sekundärliteratur wird er als „Mann des Übergangs“ oder auch als „seltsamer Mann“ beschrieben, getrieben von einer grossen Lust auf Literatur und fernen Zielen. Geboren in Bern, lebte er einige Zeit in Österreich in KuK-Diensten, um dann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nach Brasilien zu reisen, dort Österreich zu vertreten und sich engagiert um die Kolonialisierung bestimmter Landstriche Brasiliens zu bemühen. Seine Bemühungen scheiterten. Er reiste wieder nach Bern zurück, um dort unter mysteriösen Umständen zu sterben.

Im Zentrum des Textes, der sich in der Gegenwart situiert, steht ein Ich-Erzähler, der Dranmor auf der Spur ist bzw. diesen ausgraben will. Der grobe und einfache Plot: Der Erzähler landet auf der Suche nach einer Arbeitsstelle in Bern, trifft dort einen alten Studienfreund mit dem Namen Roman. Beide beginnen gleichzeitig für einen Literaturwettbewerb zu schreiben und nehmen sich den vergessenen Dichter Dranmor vor. Später, ab etwa dem sechsten Kapitel, tritt SIE auf. Eine vergangene Liebe Romans und des Erzählers, die von letzterem, exemplarisch für vieles andere auch, noch nicht bewältigt wurde. Der Erzähler verliert zudem seine Arbeitsstelle und stürzt in eine Krise. Der experimentelle Roman in Fragmenten (Manuskript in Überarbeitung, derzeit 320 Normseiten) kippt im letzten Drittel ins Mythologische und endet in der Auflösung der Erzählstränge, Diskurse und des Erzählers.

Das Personal des Romans ist sehr überschaubar. Neben dem Erzähler treten nur wenige Figuren, wie z.B. Roman, SIE, ein Gemälde Holstein-Gottorfs, eine Zimmerpflanze mit dem Namen Maria und ein sich allmählich aggressiv gebärdender Pilz auf. Die Schauplätze, ausser einer Stippvisite in Barcelona, beschränken sich auf Wohnung, Keller, Dach des Erzählers in Bern und einige unbedeutende andere Stationen.

Zentrale Motive des Romans sind: das eigene Schreiben und Zur-Sprache-Finden des Erzählers, die Bedeutung von Literatur an sich und die Oberflächennutzung und Identifikation mit Vorgängern sowie am Rande Heimat/Fremde/Exilierung. Dokumentiert werden sollen hier aber auch das Bild einer späten Heimsuchung eines nicht entsorgten Vergangenen, der Snapshot eines zehnmonatigen Verfalls bzw. das Scheitern einer halbherzig versuchten Integration in der randständigen Wahrnehmung und Sprache eines Verlorenen.