Dranmor VIII,1c

(Aventiure)

Nur noch eine Viertelstunde, bettele ich. Ich müsse mich stärken. Der Blinde und der Taubstumme sagen nicht nein. Ich lade sie ein, sage ich, sie könnten das doch nicht abschlagen. Das können sie nicht, denn alle für einen, so der Blinde. Und: nichts gegen die Alpenbitter am Morgen. Sie seien nur etwas geschwätzig, wie man mich warnte. Ich solle mich setzen, dorthin auf die Remittenden. Sie müssten nebenher Zeitschriften einräumen.

So früh sei ich noch nie dagewesen. Ich übergehe diese Bemerkung. Der eine würde meine Antwort nicht verstehen, der andere nicht die Zusammenhänge. Die Tage werden länger, sagt man, sage ich. Dann: Ich versuche die Tage zu verkürzen, um den Schlaf wieder in die Nacht zu justieren. Ob ich schlecht schlafe? Nein, sehr gut, eigentlich. Aber viel zu wenig. Ich fände ihn selten. Er findet mich am Tag, manchmal, an den unüblichsten Stellen und möchte gepflegt werden.

Der eine nickt, der andere befüllt die Plastiktasche. Klirren. Ob ich anschreiben lassen könne? Das müsse ich den Kollegen fragen, lacht der Blinde. Dem Stummen muss ich es bedeuten. Bis morgen, grüsst der Blinde. Der Stumme seufzt mit den Schultern. Sie sperren den Kiosk wieder hinter mir zu.

Bald wird es hell werden, und da draussen die Vögel in tönerne Pfeifen blasen. Die wenigen, die sich noch hierher verirrten und so tun, als wären sie viele, die sich nur versteckten. Ich vermute sie im Dickicht der Bäume. Im Treppenhaus ist es angenehm kühl. Das Glas sollte bald abgeführt werden, wenn ich meine Wohnung weiterhin erreichen möchte. Das Glas vor der Türe zum Keller und unter das Dach dagegen ist ein hilfreicher Wall und kann möglicherweise die Ausbreitung des Schwamms, wenn schon nicht stoppen, so vielleicht doch etwas verlangsamen. Ein Windhauch zieht durch das Treppenhaus und bricht sich an Flaschenhälsen, legt sich wie ein Teppich über die Stufen und dämpft einen minderen Akkord. Und auch das Quacken und Rumoren, das Schmatzen aus der Tiefe wird dadurch übertönt. Ebenso eine Art Angst, dass dort unten vielleicht ein Labor entstanden sei, in dem sich fremde Gegenstände selbst und einander behandelten. Was würden sie am Ende sein?

Auf dem letzten Absatz stolpere ich, eine Flasche fällt um und löst einen Dominoeffekt aus. Einen Rutsch oder Abgang, der das Treppenhaus in lautem Getöse zum Gleiten bringt. Flüssigkeiten schwappen. Ein Plätschern, das sich in eine Sturzbachsonate auswächst. Zum grossen Finale rette ich mich in die Wohnung, zu den fleckigen Wänden, Papierkugeln, anderem Geknüllten, wieder Glattzustreichenden, bevor es zerkleinert und zu handlichen Paketen gebündelt würde. An den Ecken: Risse und Fetzen.

Das Schwappen und das Ächzen. Immer vermutet und zu recht: die undichte Stelle im Bad, gleich über der eingelassenen Leiste des Duschvorhangs, plant Schlimmes. Würde nachgeben. Würde einen Durchbruch zulassen. Zu erwarten: Staub und Fetzen unversiegelter Raufasertapeten, Spuren krümelnden Gipses. Es fällt in Zeitlupe in die Wanne und färbt eine sich bildende Pfütze erst gelb, dann grün, ein intensives Orange, endlich. Farbenfroher Schmutz, der sich am Wannenrand ablagern wird. Schwer zu beseitigen, dachte ich.

Jetzt tropft es unverschämt und schleimt und bildet beim Auftreffen in der Wanne eine wabernde, gallige Masse mit grosser Leuchtkraft. Oszillierendes Salamanderwerk. Ein Amphibienwesen entsteht und bleckt eine gespaltene Zunge. Ist heute schon die feindliche Übernahme?

Ich bin über die Potenz des Wesens überrascht und entferne mich rücklings in die Küche. Immer weniger Raum in der Küche und im Wohnzimmer. Knapper Raum, denn die Dinge müssen evakuiert werden. Bald von hier, bald nach da, auch wenn es Zeit benötigen würde, bis sie sich wieder an Ort und Stelle fühlten. Ein Interim nur. Eine kleine Umschichtung. Aber man muss ihnen auch dort ein Gefühl der Sicherheit geben. Und irgendwann ist die brüchige Ecke zu stabilisieren. Der Anfang der Veränderung, die hart daran ist, mir ein weiteres Zimmer zu nehmen.

Unablässig tropft der Wasserhahn über der Badewanne, höre ich durch den Flur. Und Tropfen, die sich genüsslich mit dem Wesen vereinigen. War da schon Leben? Oder war es doch etwas anderes? Ein Salamanderpilz, hatte der Stumme gefragt? Ein langsam schlurfender, nein, schlürfender Schleimpilz, gemutmasst. Nein: Pass auf! Beobachte es! Dann der Taubstumme, nachdem ich ihnen die Genese schilderte. Mit Hexenbutter sei nicht zu spassen. Das werde tatsächlich zum Tier. Das bewege sich und schwimme, wenn es darauf ankomme. So ein Ding hätte es schon über die Aare geschafft.

Hitze- und Dampfentwicklung im Bad: dicke Luft und stinkende Gase drängen sich unter der Schwelle.

Man müsse sofort handeln, wolle man hier noch eine Weile bleiben, mein Freund. Aber: Was tun? Wer opferte sich? Wer hat den Mut? Ich! Ich! Nein, ich! So, aus der Tasche, der Packung, die lustigen Alpenbitter, die immer noch rotwangig Schmauchenden. Sie flüstern hinter vorgehaltener Hand. Wir können dir helfen! Wir werden alles tun, was du uns befiehlst, Meister! Vertrau uns, nur Mut!

Diese mutigen Kerlchen. Ihr Opferwille rührt mich. Ich flüstere zurück: man würde ja selbst gerne dagegen angehen, aber, wie sie sähen, man müsse, ich schaue mich um, den Papierhaufen hier bewachen. Und das Altglas entsorgen. Und den Müll. Ja, man sei für die Sorgen zuständig, hier im Hause. Ich greife nach dem mittleren Bitter, demjenigen, der am lautesten geschrieen hatte. Stürze mit ihm an die Badezimmertüre.

Auf in die Schlacht, schreit er, und: ein paar Tropfen an die Schwelle genügten. Ich träufle bis Rauch und Gestank sich schreiend ins Innere zurückziehen, öffne entschlossen die Türe, vor der Brust die Flasche mit dem tapferen Appenzeller. Der bewehrte Anblick muss erschreckend sein. Die blubbernde Masse in der Wanne beginnt sich eilig zu verflechten und zu verkrusten, träge vor Erstaunen über den geleisteten Widerstand. Ich leere die ganze Flasche hinein.

Es zischt. Es löst sich auf. Es bildet Phasen und seltene Farben aus. Ein Teil der nun schwefelnden Lache verzieht sich wieder nach oben durch den Wandbruch. Dorthin, wo es herkam. Fluchend. Für den Kopf ist es zu spät. Er zerfällt unter lautem Getöse zu Staub und fliesst aufgescheucht durch den Ausguss ab. Zurück bleibt eine einzelne Seite. Nach Verzug des Rauches sind bald Wörter und ganze Sätze darauf erkennbar. Sätze in meiner Handschrift. Ich muss die Augen zusammenkneifen. Es ist eine Abschrift aus dem Vorwort zur dritten Auflage der Gesammelten Dichtungen. Ich lese



»Nicht immer geben die Schriftsteller ihr

Bestes in ihren Werken aus.«

Man möge dieses einem Litterarhistoriker ersten Ranges entnommene Motto, indem es meine Schriften begleitet, nicht so verstehen, als ob ich Besseres noch ausgeben könnte. Manches von uns Erdachte gelangt nie zur Gestaltung. Ohne Verheißungen, ohne selbstgefälligen Kommentar, nur mit meinem wiederholt dargebrachten Danke und mit einigen bestgemeinten Erklärungen will ich den längst in mir regen Wunsch, mich dem Kreise meiner Leser zu nähern, endlich zu verwirklichen suchen.

Berechtigte Stimmen haben tadelnd hervorgehoben, daß meine poetischen Arbeiten einem Torso, einer unvollendeten Säule vergleichbar seien. Zur Entschuldigung dieses Uebelstandes diene nun folgendes:

An einem großen Programm, an Stoffen und Entwürfen hat es mir nicht gefehlt. Leider lag zwischen Wollen und Vollbringen eine brückenlose Kluft. Mit jedem neu erwachenden Morgen warfen mich gebieterische Pflichten aus Träumereien zurück in den Kampf um materielle Interessen. Dergestalt ist die vielgepriesene »Seligkeit dichterischen Schaffens«

nicht oft über mich gekommen.

Dann bricht sie ab.

Dranmor VIII,1b

(Ich-Funktion)

Der Vogelkäfig findet einen Platz auf dem erblindeten Fernseher. Appenzeller ist als Freund gewöhnungsbedürftig, kann aber intim werden. Un melange de 42 plantes et épices de choix lui donnent la saveur incomparable qui là rendu célèbre. Und die Tage vergehen schneller, mit ihm. Und die Alpen weniger bitter. Dass Tage vergehen ist an den Inhalten der Fenster zu erkennen, der wiederkehrenden Eintragungen des Organisationsprogramms, das sich manchmal mit einem weiteren Fenster meldet. Es poppt auf, sagt man, und hat einen kleinen, grauen Rahmen und drei bunte Knöpfe an der Oberkante, rechts.

Heute sagt es: Du hast den Einsendeschluss verpasst. Der war gestern. Ich habe ihn nicht verpasst, möchte ich korrigieren. Ich habe ihn verstreichen lassen. Damit möchte ich die Häme dieses aufdringlichen Fensters ins Leere laufen lassen. Andere Dinge waren zu erledigen, ich möchte jetzt nicht näher darauf eingehen. Aber ver – strei –chen! Hörst du? Es liegt ein Papierstapel über dem Fernseher und unter dem Käfig. Der Stapel bildet also eine Schicht zwischen diesen beiden leeren Räumen, und verhindert, dass sich diese austauschen. Inhaltlich. So habe ich mir das gedacht. Und die Schicht dazwischen voller wunderlicher Notizen, Blätter, manche verkleckert, bleiche Ausdrucke eines Nadeldruckers. Nichts haltbares. Aus der Menge des gesammelten und exzerpierten Materials hat sich – obenauf – eine weitere, dünne Schicht gebildet. Substrat, das nicht irgendwo abgeschrieben wurde. Das ich mein eigen nennen könnte. Es sind drei Blätter Handschriftliches. Zähe Prosa, die auf nichts hinausläuft, das ganze bestenfalls ein Prototyp eines Fragments und damit idealer Untersatz, der jüngst geöffneten Flasche. Seit ich einen Kiosk mit einem blinden und taubstummen Verkäufer gefunden habe, der meine Einkäufe nicht kommentiert, oder so tut, als würde er das jederzeit machen, tritt der Appenzeller nun immer zu dritt auf. Drei kleine Fläschchen in einer grüngelben Packung, auf der ein gutgelaunter, rotwangiger Pfeifenraucher in volkstümlicher Montur zu sehen ist. Gelbe Kniebundhose. Bunte Blumen am Hut. Auch eine rote Rose. Ich zerknülle die drei Seiten und werfe sie in eine Ecke. Überlege mir, ob ich den grossen Stapel gleich hinterher befördere. Man könnte aber noch die Rückseiten benutzen. Das Papier wird knapp.

Eigentlich sind eher „Dranmor`s gesammelte Dichtungen“ überflüssig geworden. Die vierte durchgesehene und vermehrte Auflage hatte nichts vermehrt.

Die Dichtkunst ist eine lange Liebe, das Jean-Paul-Zitat unter dem Titel. Was dieser mit jenem zu tun hatte, haben sollte, möchte ich gerne wissen. Warum ich mich in diesen verstiegen hatte, ist mir rätselhaft. Der gutgelaunte Appenzeller wendet ein, dass es eigentlich gleich sei, auf wessen Oberfläche man sich ausbreitete. Wo man sich breit machte. Dann zieht er an seiner Pfeife. Dann fixiert er mich wieder. Es funktioniere überall und mit jedem, nachdem er eine würzige Wolke aus einem Mundwinkel entlässt. Wie er das meine? Nun, man könne sich an allem abarbeiten, wenn man nur wolle. An allem, auch und gerade an Dingen, die man nicht schätzte oder gar verabscheute. Gerade auch du! Wer, ich? Ja, du!

Er duzt mich. Und ermahnt mich. Und spricht von Dingen, die er wohl in irgendeinem Seminar aufgeschnappt hatte. Ich muss mich nicht von einer sprechenden Schnapspackung belehren lassen. Sie büsst es mir. Ich entnehme die letzte Flasche und zerreisse den Appenzeller mitsamt Packung in kleine Schnipsel. Eine holzschnittartige Berglandschaft, daneben ein Bauernhaus, auf einem Flaschenetikett. Gar nicht urig darunter die Silhouette eines anderen Alpenbauers im Sonntagsstaat. Ich kann mich dem nur anschliessen, gibt er mir zu verstehen. Dass das Ich nun einmal funktionieren müsse. Weiterfunktionieren müsse, auch nach schwierigen Zeiten. Was er denn damit meine, und was er denn überhaupt wisse? Ganz wichtig sei es, unterbricht er mich, dass das Ich sich nicht mehr auf sich selbst konzentriere. Das könne nämlich sehr frustrierend sein und zu Kurzschlussreaktionen führen, gerade bei dir. Ist man denn nicht mehr vor Kumpeleien sicher? Ich werde von einem Sonntagsbauern auf einem Flaschenetikett geduzt und nenne es zur Strafe fortan Kerlchen. Ich nehme die Flasche und kitzele das kleine Kerlchen am Bauch. Es muss lachen, doziert aber weiter, nachdem es sich erholt hat. Es sei völlig gleichgültig, womit ich mich beschäftige, wollte ich mich überhaupt mit etwas beschäftigen, wenn ich mich nur nicht mit mir selbst beschäftigte. Kontraproduktiv, das, fügt es hinzu. Dann steigt es aus seinem Rahmen, schwingt sich in die Ecke, streicht das zerknüllte Papier glatt. Hm. Das sei aber auch bescheiden. Aber er sehe da ein Potential, und: man solle doch nicht alles gleich hinschmeissen. Und: Das wäre doch ein Anfang. Oder: man könne da vielleicht noch was draus machen. Er würde mir dabei helfen. Flink springt er wieder aus der Ecke und zwängt sich zurück in seinen nun etwas verbeulten Rahmen. Den Vogelkäfig habe ich ja auch offengelassen. Das sei eine sehr weise Entscheidung gewesen. Man würde sich sehen, verabschiedet er sich, und verstummt. Ich trinke die Flasche in einem Zug aus und werfe sie in die nämliche Ecke. Sie zerschellt an der Wand und hinterlässt einen Fleck, der gemächlich nach unten wandert.

Der Alpenbitter hat recht: der Käfig ist offen. Ich gehe zum Fenster und öffne dieses, auch, um verirrten Vögeln eine Chance auf ein neues Heim zu geben. Und er hat weiter recht, denn es ist tatsächlich egal, was man tut, solange man sich nur nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigte. Also warum nicht mit Dranmor, kommt es aus der Ecke. Wo es doch sonst niemand tut, seines Wissens. Und warum auch nicht mit ihm, war er doch nicht einmal Dranmor, sondern Ferdinand Schmid: der, der alle seine Gedichte mit Mottos versah. Grossen Zitaten. Und er, die Summe seiner Zitate. Das Kerlchen lacht, dann beginnt es gleichmässig zu atmen.

In drei Stunden ist kein Vogel gesehen worden. Nicht am Fenster oder in den angrenzenden Gärten. Der Käfig immer noch offen. Im Altglas schnarcht es. Es zieht.

Ich halte mich nicht artgerecht. Kein Wunder, dass kein Vogel kommt. Das Papageienbuch hat nur vier Seiten. Drei Seiten Vorwort, eine Seite Impressum. Vier Herbstliche Blätter. Bern sei nicht Rio de Janeiro, kommt es aus der fleckigen Ecke. Vielleicht noch einen Amaryllis? Ja, gerne, aber bitte mit Soda! Haha, Amaryllis sei nichts zu trinken, sondern eine unerreichbare Frau, aus der Ecke. Süsse, Holde Geliebte! So lange schon / unter den Veilchen schläfst du allein /. Ich schliesse das Fenster, dann sind wir ungestört. Dann sind wir ungestört. Dann ist Nacht.

Febre amarella. Ich blute noch ein wenig am Hinterkopf. Muss ausgerutscht sein, auf den Körnern. Überall. Aber fast alles getrocknet. Auch die Flecken auf dem Papageienbuch. Auf den Notizen. Der Käfig liegt auf dem Boden. Ich stelle ihn an die Wand. Der Boden voller Körner. Sie knirschen und platzen, wenn man auf sie tritt, auf dem Weg ins Bad.

Dranmor VIII,1a

(Pirsch)

Der Mensch sei ein Herbststück Gottes. Wer sagte das? Spricht da wer? Und April der grausamste Monat, der allerhand gebiert. Ein anderer. Und die Befürchtungen: Entartet ist die junge Brut, wieder ein anderer. Erste Strophe: Januario Garcia. Der erste des Jahres, der aber nicht gemeint war. In frühen Morgenstunden war sein Sohn schon zum Pirschen ausgegangen. Eine weitere Notiz auf der nun ellenlangen Liste noch zu tätigender Recherchen. Wer, Januario Garcia? Eine epische Vorgeburt Kaiser Maximilians? Wer sein Sohn? Vielleicht bin ich es ja, der nun seine Turnschuhe schnürt, das letzte Paar Schuhe, das den Namen verdient. Die Suche nach Scheinen in der kleinen Dose. Die Sucht. Drei Scheine, nur noch. Ein Blauer, ein Grüner, ein Gelber. Zahlen. Unbekannte Frauen und Männer. Der Gelbe hebt seine Brille an. Um mich schärfer zu stellen? Aber sonst fett und stoisch und es scheint, sie seien mit ihrem Dasein zufrieden. Oder nicht?

So eingedost, wo alles schiesst und spriesst und auf die Strasse will. Das gegenüberliegende Haus macht Anstrengungen den Garten zu bearbeiten. Eine Putzkolonne wälzt sich durch die Strassen des Botschaftsviertels, also ist es Montag oder Dienstag oder Mittwoch. Oder. Wird dort nicht täglich gereinigt?

Die Welt putzt sich. Auch der angesteuerte Nadelpark will nicht mehr nur nadeln, wirft alten Ballast ab und tauscht ihn ein gegen Lilienhecken und anderem bunten Grün.

Wo sind die Nadelparkbewohner? Hatte die Verwaltung in der Zwischenzeit ernst gemacht und sie disloziert. Kein Dünner da, dem zu vertrauen wäre, kein x-beliebig anderer, dem willkürlich die Noten ausgehändigt werden könnten, und der dafür sorgte, dass meine rasenden Kopfschmerzen, so nenne ich das jetzt, nachliessen.

Und doch wird mir heiter und ich scherze mit mir und der Dame und den Herren auf Papier, und baue kurze Beziehungen auf. Zähle sie ab und singe dazu: Du. Dich tausch ich nun ein gegen einen leckeren Appenzeller. Dann lache ich. Bitterster Jägermeister der Schweiz, der eigentlich nur gefroren getrunken gehörte, damit sein Geschmack sich nicht entfalte.

Die Frau an der Theke des Feinkostladens beobachtet mich. Findet sie meine vibrierenden Hände seltsam? Die in den Hosentaschen stochern und nach zu tauschenden Damen und Herren suchen? Ob das alles sei, verstehe ich, und sie meint sicher, ob ich überhaupt bezahlen könne. Oder ob ich nicht vielleicht doch ein Stückchen Brot dazu … Ich finde Sophie Taeuber-Arp und lege sie auf das gestockte Fliessband. Nehme sie noch einmal zurück und entdecke noch ein kleines Bildchen am Rande der Note. Eine lächelnde Frau vor zweidrei Bildern, zu ihrer Rechten ein Tintenfass, so wie es ausschaut.

Ich bekomme Rückgeld und eine Plastiktasche, in die ich alles hineinwerfe. Verabschiede mich höflich.

Gibt es Lilien in Brasilien? Diese Frage beschäftigt mich seit ein paar unruhigen Metern und dem ersten Schluck von dem braunen Gesöff. War hier nicht irgendwo die Brasilianische Botschaft, die zu befragen wäre, in dieser Sache. In dieser hochsicheren Strasse ist aber keine ehrliche Antwort zu erwarten. Und: ob denn der Urwald nie gefegt werde? Dann wieder: Gibt es Lilien in Brasilien? Was für eine Hookline. Daraus müsste man doch einen Song machen, aus dieser starken Frage. Ob es ihn schon gäbe? Ganz sicher hatte sich schon irgendwer damit beschäftigt: mit der Anpflanzung von Lilien in den Tropen. Oder Subtropen? Und dazu ein paar Töne geträllert.

Ein paar Meter nach einem Securitaspärchen dreht sich mir der Magen um. Doch zu früh für den Appenzeller, der eigentlich nur mit einem halben Kilo Käse zu verdauen ist. Und zu warm. Ich kann noch die Hand vor den sich aufreissenden Mund werfen, aber der Strahl spritzt durch die gespreizten Finger. Ein nur dünner Strahl. Ich biege um die Ecke und entleere mich gründlich in einen Mülleimer. Danke, steht in gelber Schrift darauf.

Welche Jahreszeit denn nun in Brasilien herrschte. Die nächste zu beantwortende Frage. Die in der Zoohandlung müssten es wissen. Dort zanken sich Papageien in der Auslage. Glöckchen beim Eintritt und beim Schliessen der Türe. Sind denn alle Türen dieser Stadt mit Glocken ausgerüstet? Ich lache bei der Frage, ob man mir helfen könne. Ich hätte da eine Frage. Wo ist sie nur? Eben war sie noch da. Egal, ich frage etwas anderes. Ob ich hier einen Sabia bekäme. Haben sie nicht. Nein. Oder wenigstens eine Nachtigall? Die sänge ähnlich, wie ich wisse. Sie mache: Quio tr rrrrrrr itz. Und manchmal auch Lü lü lü lü ly ly ly ly li, li, li, li. Das nenne man Schlag und sie haben auch keine Nachtigall. Was für ein seltsamer Laden. Ob es mir nicht gut gehe? Und: Nein, sie könnten auch keine Nachtigall bestellen, ich sei hier in keiner Buchhandlung.

Und ob ich nicht lieber gehen möchte? Ich wolle aber einen Vogel, lauter, und zwar diesen oder diesen, und deute auf die Papageien.

Man zweifle daran, dass ich der Lage sei, diese artgerecht zu halten und verweise auf die Hausordnung und diverse anderen Ordnungen. Schon etwas unsicherer, der Ladenhüter, der wohl doch einlenken möchte und mir ein Buch über Papageienpflege empfiehlt, ob ich mich nicht erst einmal einlesen wolle?

Ich gebe nach und kaufe das Buch, und sicherheitshalber auch noch einen kleinen Vogelkäfig. Ja, Hausvögel fliegen einem manchmal zu, das kann auch der Händler bestätigen. Man kann gar nicht genug vorbereitet sein. Ich suche nach einer weiteren Note. Rascheln. Es sei schon gut so, danke. Den gelben Corbusier noch, das passe auch farblich. Gut so, danke. Nein, ich brauche keine Tasche. Das Buch und die Plastiktasche mit der Flasche passen hervorragend in den Käfig. Kopfschütteln. Ich verabschiede mich und die Glocken übertönen etwas von ihm Hingerauntes. Beim Schliessen.

Auf der Strasse fällt mir wieder die Frage ein. War man in Brasilien nicht ein halbes Jahr mit den Jahreszeiten hinterher? Oder Voraus? Dann müsse jetzt Herbst sein. Dann war dies ein sinnloser Kauf, denn im Herbst flögen keine Vögel mehr zu. Die Klugen nehmen im Frühling reissaus. Dann, wenn es am grausamsten ist. Ein Wagen der Strassenreinigung macht keine Anstalten am Zebrastreifen zu halten. Mir wird die Vorfahrt genommen.

Dranmor VI,6

(In Romanen ist alles anders)

Dann sind die Dinge wieder an einem Ort. Und das Dachzimmer leer und verlassen. Und die Dinge des Kellerzimmers vermeintlich gerettet, auch das Teelicht, das entdochtete, letztendlich der schwarzen Masse entrissen, die böse wurde und gelb, so sah es einen Augenblick aus, bis die Türe endlich geschlossen wurde und ein letztes Mal der Schüssel in ihr versenkt, gedreht und wieder entzogen wurde.

Das wenige, aber unentbehrliche, in der Wohnung auf die drei Zimmer verteilt: angenagte Stifte zu den trocknenden Blättern, die allmählich wieder ihre Schrift finden, soweit, dass jedes zweite Wort seinen Sinn zurückerhält, und das Teelicht ins Badezimmer, das schon lange nicht mehr leuchtet. Das würde sich ändern, sobald sich ein Docht fände.

Müssen irgendwelche Schlüsse aus dem alten Briefwechsel mit ihr gezogen werden? Oder aus den bleichen Schriften aus meiner, seiner, ihrer Hand?

Die Hände sind älter geworden. Benanntem entwachsen. Wie gross die Hände nun seien? Ihre, seine, meine? Und was sie nun packen und begreifen möchten, was sie schrieben: sich, einander. Das wäre gut, zu wissen.

Dranmor war ein zum Wissen Getriebener. Ein Wissenwollender, der, mutmasse ich, sich selbst vertrieben hatte. Eine reine Spekulation, sagte Roman einmal. Doch ob es üblich sei, gleich die Koffer zu packen, wenn eine Ahnung oder Vermutung auftauchte, dieser nachzugeben, und bald ein Schiff zu besteigen?

Ein Berufener eben, würde ich nun sagen, kein Getriebener, er wollte das, weil er es musste, und Brasilien sei nur ein möglicher Ort gewesen, um Gutes zu tun, dachte er vielleicht. Oder um etwas hinter sich zu lassen. Wahrscheinlicher ist aber, dass er sich ein romantisches Holzhaus in irgendeinem Dschungel phantasierte, und ein paar Vögel, Arenaviridae, eine freundliche Frau, ein paar Bücher, die er dann ungestört verschlingen und beschriften konnte. Letzteres ist wohl das Wahrscheinlichste.

Roman meinte aber nicht Dranmor, als er das damals sagte. Er meinte möglicherweise mich, ahnte, wie ich einmal vor meinem Kleiderschrank stehen würde, jetzt, und nach frischer Wäsche suche, Weniges finde und in eine Tasche werfe. Schnell.

Und den Laptop verpacke, auf die Uhr schaue, immer wieder, ungläubig, dass ich mich zum Verreisen entschlossen habe. Ob ich es noch rechtzeitig schaffe? Halb Acht und die Strassenlampen entflammen.

Dieser Abstecher muss sein. Sie würden das nicht durchhalten. Sie bleiben schön zuhause, würde jemand sagen, und er und sie: Das ist vielleicht keine gute Idee, jetzt. Ich solle mich doch erst einmal ein bisschen erholen. Aber sie wissen es nicht. Nur ohne Medikamente, Motivationsverstärker, gewisse stabilisierende Substanzen, würde es tatsächlich schwer werden und ich kümmere mich. Es liegt auf dem Weg. Man muss nur wissen, was man wolle, fragen und ein wenig die Augen offen halten. Und nur abgezähltes Geld, versteht sich, ich hatte ja schon Erfahrungen gesammelt. Acht Uhr. Die Tasche. Der Laptop. Ist das Gas abgestellt? Dreimal versichere ich mich. Auch dreimaliges Versichern, ob die Wasserhähne nicht mehr tropfen, alle Türen geschlossen, der Keller versiegelt, die Dachstube dicht, sodass die Wörter nicht daraus flössen.

Und die Strasse mucksmäuschenstill, beobachtet mein Davonstehlen, misstrauisch, wie ich mit Münzen einen Automaten füttere, die Billete nur widerwillig ihr warmes Gehäuse verlassen. Aber da ist schon die Tram und wir müssen nicht mehr frieren.

Die Briefe und Aufzeichnungen! Ich habe sie auf dem Küchentisch liegen lassen, weiss nicht mehr, ob unabsichtlich oder in der Einsicht, sie würden nichts nutzen oder müssten noch trockener werden, oder brächten nichts, dort, wo ich hinwill. Oder die Angst, dass sie dort wieder unlesbar würden. Es war also eine Sicherheitsmassnahme, so deute ich das jetzt.

Nach zwei Stationen füllt sich die Tram, nach vieren entlässt sie ihren Inhalt wieder. Die Abendgäste der Stadt und mich, der noch einen kleinen Umweg über den Nadelpark macht. Die Verreisenden gehen dort hin, die Hinterherreisenden in die andere Richtung, dorthin, wo es die sündigen Sachen gibt, und die, die man manchmal brauch, um sich wieder zurechtzurücken. Es ist noch früh, für diesen Park, und kaum Betrieb und darum kaum Kontrolle, und keine Fahnder zu erwarten. Ich schaue mich um.

In Romanen warten Protagonisten eine Weile, bis man sich in solchen Situationen um sie kümmert. Hier taucht aber ein Dünner auf und spricht mit mir und weiss sofort, was ich suche. In Romanen gibt es in solchen Situationen Schwierigkeiten. Hier gebe ich dem Dünnen Geld, versuche etwas zu handeln, bin aber zu müde, um mir vermeintliche Vorteile zu schaffen und willige auf eine Anzahlung ein, er brauche das, und: er sei gleich wieder da.

In Romanen würde niemand mehr auftauchen, aber hier kommt der Dünne nach zehn Minuten, die sich wie fünf verhalten, zurück – so schnell kann Zeit auch vergehen, wenn man sie drängt – und sagt, es sei alles kein Problem gewesen. Es sei etwas teurer geworden, aber dafür, er schiebt es mir umständlich in die Hand, reiche es für mindestens zwei Wochen. Sehr potent, ich solle mit der Dosierung etwas aufpassen. Ich möchte nicht diskutieren, wir sind hier in keinem Roman. Danke, ja, Merci, gute Reise.

Der Weg durch die Menschenmenge in der Unterführung muss mit einer eiligen und aggressiven Mine erkämpft werden. Die Leute weichen tatsächlich aus und ein weiterer Blick auf die Uhr bestätigt: es bleibt noch genug Zeit, ich bin regelrecht früh am Bahnsteig, muss mich nun vorsehen, dass ich nicht doch entdeckt werde und die Sache peinlich wird.

Dranmor VI,4

(Das Dritte)

Solche Dinge gab es. Und andere. Irgendwo wurden sie festgehalten. Vielleicht auf kleine Zettel notiert, oder in Hefte. Lose Blätter. Möglicherweise nummeriert und wieder abgelegt. Auch diese Geschichte in einem Rheinbad. Eine Rheinbadgeschichte wurde geschrieben: mit ihm, ihr und mir.

In dritter Person. Wer war die dritte Person? Am Ende immer der Erzähler. Sie wurde in der ersten erzählt und so auch niedergeschrieben. Eine Geschichte bei der immer zwei Personen, sie und ich, schwimmen gehen und sich am Ende zwei Personen unter Wasser in den Armen liegen, er und sie, nicht einfach nur in den Armen liegen. Eins werden. Und der Erzähler ist dann allein.

Zwei dritte Personen und eine erste: die erste wird zur dritten, die zwei Dritten zu einer, und eine Perspektive verschiebt sich. Auch auf den Zetteln. Und die Nummern stimmen nicht mehr. Andere Zettel kommen hinzu, zwängen sich in die Reihenfolge, sodass Buchstaben eingeführt werden müssen. Oder Nummern, die es noch gar nicht gibt. Und am Ende wird addiert, und es sind auf einmal fünf. Und man kann sie mit etwas Mühe an einer Hand abzählen. Kurz, bevor sie wieder verschwinden.

Und der, der übrig bleibt, muss erzählen. Wer übrig bleibt, erzählt immer und hat die Mühe, die Zettel in eine stimmige Ordnung zu bringen. Oder muss man es Protokoll nennen? Dann wurde protokolliert, und man weiss gar nicht mehr, was los war.

Es war Alkohol im Spiel, aber das ist nie die Ursache von Ereignissen. Vielleicht kann es bestimmte Ereignisse früher ermöglichen. Und vielleicht war es ein Grund, warum sie nicht mehr präzise erinnert werden. Warum nur noch Bruchstücke übrig bleiben und auch nur, wenn diese aufbewahrt und fixiert wurden, denn manche Speicher sind noch flüchtiger, als die Spuren auf Zetteln, in Heften oder Briefen, die dann aber auch zerfliessen, dünner werden und letztlich verschwinden, wie die Gebirgsflüsse, flussaufwärts, die in grosse Seen münden. Denn man blickt immer zurück, in Gegenrichtung und sie enden in einem Stein, einem kleinen Riss in einem Berg, einer Nichtigkeit, die Zeitspalte genannt wird. Sie werden nicht festgehalten.

Dass es gar kein Festhalten gäbe, wo nicht etwa ein Greifen war, zuvor. Höre ich ihn sagen. Und dass es nicht seine Schuld sei, wenn ich nicht begreife, wenn ich nicht zum richtigen Zeitpunkt begreifen könne, wenn ich nicht mit Griffen und Begriffen umgehen könne, höre ich ihn sagen. Vielleicht lacht sie über dieses alberne Wortspiel, vielleicht hätte sie darüber gelacht. Hätte sie? Ich kann nur ahnen, was sie getan hätte. Das Wissen um das mögliche Tun der anderen verflüchtigt sich so schnell.

Wären da nicht die Andeutungen. Die nicht begriffenen Sachen, die trotzdem benannt wurden. In den Heften und Briefen, und den Briefen die folgten. Und denen, die nie abgeschickt wurden. Und denen, die ich an mich selbst adressierte, und die nun, es ist dunkel heute Abend, der Wein nur noch Neige, gefangen sind. Bewacht werden in entfremdeten Kisten, in verjährten Kellern an den Rand gedrängt. Die aus dem Blick gezogenen Schachteln, in fremder Gewalt: die Zell- und Zeilstoff angreift und löscht und auch die anderen Substanzen zermürbt. So liegen die Andeutungen jetzt, meine, ihre, jahrzehntealte Begriffe, seinerseits. Und noch mehr: die ganz alten Wörter, die es heute nicht mehr gibt. Die Wörter der Väter und Mütter, die zuerst benutzt wurden, in ganz fremder Umgebung, sodass sie sich gar nicht mehr eigneten, ausgesprochen zu werden.

Dass diese Wörter, die zu Papier gebracht wurden, bleichten, oder – viel gewaltiger – von anderen ausgesprochen wurden, und entfremdet: Das ist das Dilemma, dass ich das nicht selbst tat. Tue.

Es wird keinen Frieden geben, bevor nicht ein letztes Mal die Sätze gesehen und bearbeitet wurden. Keine Ruhe, bevor den Wörtern und Sätzen, die aus den Spalten und Tälern der Berge kamen, das Rauschen genommen wurde.

Bis dem Treppenhaus die Tonleiter ausgetrieben wurde, den letzten Stufen in Moll der Kies in die Tasten getreten wird: sind denn hier keine Nachbarn? Und: leert hier denn niemand die Briefkästen. Und: wer soll denn nun die Treppen stimmen? Man kann den Kellereingang ja kaum noch sehen. Ist denn das Licht defekt? Wurden hier Schalter manipuliert? Als Waffe findet sich nur ein halber Besenstiel, der helfen muss, das Ungefähre auf Distanz zu halten. Auch das Dunkle. Auch das Rascheln und Fiepsen. Und den opportunistischen Kies. Gegen die Angst. Wovor? Dem Keller? Diesen Raum? Dem bis an die Zähne bewaffneten Schwamm darin, der nun seine Kiste zu verteidigen sucht? Und die Bündel Briefe, Hefte, Zettel. Den Buchstaben darauf und darin. Den Dingen darunter und dahinter. Den Andeutungen und dem einen oder anderen Bild?

Dies sei der letzte Gang hinunter, der letzte Riegel, der dem Sous-Terrain, wie man es nicht mehr nennen würde, vorgeschoben wurde; der dem Haus nun ein Aussen und Innen belässt, aber das Unterste leugnet: Seine Verschüttung. Seine Unzugänglichkeit.

Dies sei die letzte Einheit, die von mir erstritten und geborgen wurde, die noch schleimig und feucht nun auf diesem Tisch liegt: Die unverzollte Fracht, die nicht mehr gelöscht wurde.

Mit einer Nagelschere öffne ich das erste Bündel. Das Jahr 1995. Ein paar Bilder. Eine andere Schrift auf den Umschlägen eines anderen Bündels. Das Jahr 1985. Noch keine Schrift, gereihte Buchstaben, sicher, aber keine eigene Schrift. Dann der Schrecken beim Öffnen des ersten Briefes. Die Blätter, Seiten darin: feucht und leer. Auch die von mir an mich Adressierten. Gefressen. Kleine Striche, nur noch, an den Rändern. Krümel. Hektisch öffne ich ein weiteres Bündel. 1990. Briefe an den Vater. Und wieder die Schriften: weg! Gibt es überhaupt noch Schriften, Handgeschriebenes in der Wohnung. Ich schöpfe Verdacht, renne zum Schreibtisch. Was ist mit den Aufzeichnungen und Exzerpten? Ich wühle in einem Haufen. Dort. Ich kann meine Handschrift erkennen, atme auf. Es will uns scheinen, dass die Zeit gekommen war, wo sich alte Schäden nicht mehr übertünchen liessen, oder auch, dass man hie und da, schon aus Nachahmungssucht und durch freches Beispiel demoralisiert, die Gelegenheit nicht versäumte, um sich von lästig gewordenen Passivas auf wohlfeile Art loszukaufen … Die Exzerpte zu Dranmors Bericht des Kolonisationsprojekts. Protokolle eines Scheiterns. Gottseidank. Sie sind noch da.