Dranmor Korrespondenz 1

Sehr geehrter Herr D.,

ich fand Sie im Zusammenhang mit Ihrem Dranmor-Vortrag auf dieser Seite:

http://www.uni-trier.de/uni/foreinr/portugal/heimatFremde.html

(„09.00 J.D.  – Heimisch nur im Panzerhemd des Weltbürgers. Der Dichter Dranmor (1823-1888) zwischen Brasilien und der Schweiz“)

Ich arbeite seit geraumer Zeit an einem Dranmor-Projekt. Nein, keine wiss. Arbeit, eher eine Art Fragment-Roman, in der tatsächlich Dranmor als Person oder diverse Texte von ihm nur eine untergeordnete Rolle spielen. Es kristallisiert sich dort “Dranmor” vielleicht eher als Haltung oder Projektionsfläche heraus. Aber auch die Heimat als “das Andere” wird eine

Rolle spielen.

Eine Übersicht der Rohbausteine, die teilweise noch stark verändert werden können/müssen finden Sie hier:

http://www.abendschein.ch/more.php?id=211_0_1_6_C

Natürlich müssen auch noch einige Kapitel geschrieben werden …

Ich bin aber dennoch sehr neugierig auf Ihren Vortrag geworden und wollte Sie fragen, ob Sie mir ein paar Informationen darüber geben könnten. Vielleicht hatten Sie ja dafür ein Abstract o.ä. vorbereitet …

Ich hoffe, nicht zu aufdringlich an Sie herangetreten zu sein und sende Ihnen herzliche Grüsse aus Bern/ CH

H.A.

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Lieber Herr A.,

Vielen Dank für Ihre Email. Ich wusste wirklich nicht, dass sich ausser mir noch Leute mit diesem Autor beschäftigen. Mich interessiert besonders Dranmors Beziehung zu Brasilien. Falls ich Ihnen mit den Informationen, die ich zu seiner Person gesammelt habe, weiterhelfen könnte, dann mache ich das gerne. 

Ich gehe davon aus, dass der Vortrag noch in diesem Jahr veröffentlicht wird. Ich schicke Ihnen dann gerne ein Exemplar.

Ein “abstract” zu dem Vortrag hätte ich auch, allerdings bin ich erst wieder im September zu Hause. Ich schicke es Ihnen dann weiter.

Habe Sie je etwas über die Tätigkeiten Dranmors in Brasilien erfahren, was man in der bekannten Sekundärliteratur nicht findet? Forschungen in Rio haben mir da (leider) überhaupt nicht weitergeholfen.

Mit freundlichen Grüssen,

J. D.

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Lieber Herr D.

Herzlichen Dank für Ihre rasche Antwort. Nein, viel Sekundäres habe auch ich nicht zu Dranmor gefunden. Vielleicht haben sie ja meine kleine Literaturliste/Bibliographie gefunden

(http://www.abendschein.ch/more.php?id=P243_0_1_0_C, mehr kenne ich allerdings noch nicht – die Titel dürften Ihnen wahrscheinlich auch alle bekannt vorkommen). Ein paar Titel von dort (zb. Pester Lloyd 22.  Jg, Nr. 69) konnte ich allerdings auch noch nicht einsehen. Ich freue mich auf Ihre Publikation, würde mich auch freuen, wenn Sie mir bei Erscheinen Bescheid gäben. Ich würde Sie dann regulär bestellen …

Herzlichen Dank also & bis bald

H.A.

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Lieber Herr D.

eine kleine Frage noch: darf ich unseren kleinen Mailverkehr in meinem Weblog veröffentlichen (selbstverständlich anonymisiert) – er gehört irgendwie zu dem Dranmor-Komplex, wie ich ihn konstruiere, dazu.

Herzliche Grüsse

H.A.

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Lieber Herr A.,

Es tut mir Leid, dass ich nicht gleich reagieren konnte. Es ist wirklich erschaunlich, was Sie da alles im Internet haben. Mir hat das Ganze sehr gefallen, es ist nicht nur gut geschrieben,

sondern auch vom Inhalt her recht spannend. Schade, dass auch bei Verwandten/ Nachkommen nichts gefunden werden konnte. Zwei Texte aus Ihrer Bibliographie kannte ich noch nicht

Ferdinand Schmid: Rückblicke auf verunglückte Colonisationsversuche in Brasilien. Rio de Janeiro, 1881

und

Ferdinand Schmid: Über Handel und Wandel in Brasilien. Journalistische Skizzen. Rio de Janeiro, 1883

Haben Sie diese Texte auch wirklich gefunden? In Bern? Sind sie sehr lang?

Ich habe in der ZBZ in Zürich einen anderen Text von Dranmor über die Kolonisation in Brasilien gefunden, habe aber den Titel nicht im Kopf. Ich sage Ihnen das dann im September.

Sie können unseren Email-Kontakt natürlich gerne “literarisieren”.

Anfang September bin ich übrigens in Bern (bei einer Tagung der GEDL an der Landesbibliothek), vielleicht könnten wir dann mal zusammen einen Kaffee trinken.

Mit freundlichen Grüssen,

J. D.

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Lieber Herr D.

Ja, die zwei genannten Texte sind in Bern (in der StUB) vorhanden und wurden auch (hier: http://www.abendschein.ch/more.php?id=P285_0_1_0_C und hier: http://www.abendschein.ch/more.php?id=P256_0_1_0_C) schon etwas exzerpiert. Sie finden sie in diesem Katalog (http://edbessrv6.unibe.ch/de/Index.htm, Suchwort: Dranmor). Es sind jeweils Texte mit 100-150 Seiten (wenn ich mich recht erinnere).

Leider bin ich just an diesem Wochenende anderweitig beschäftigt (http://www.werkschau.org/, zu der Sie aber auch herzlich eingeladen sind, vielleicht lese ich da das eine oder andere Dranmor-Fragment, man wird sehen) … oder aber, vielleicht lässt es sich ja doch irgendwie einrichten, und Sie melden sich noch mal kurz vorher.

Einstweilen, herzliche Grüsse

H.A.

Dramor Photographie

soeben dieser Dranmor-Photographie aus einer digitalen Bibliothek habhaft geworden. Danke, Claude! Wie hier deutlich zu sehen, handelt es sich wohl um das Vorbild, nach dem der Stich angefertigt wurde … dafür die negative Nachricht aus Basel: die einzige “neuere” Abhandlung zu D. (Feistele, Max: Die Lyrik Ludwig Ferdinand Schmids [Dranmor“>, Liz.-Arbeit, Basel, 1969 ) ist wohl für immer verschollen, die Adresse des Verfassers nicht recherchierbar …

Dranmor VI,1e

(Die Quellen)

An diesem Tag geht leichter Schnee in Regen über. Auch wird die Luft dichter, und in den unteren Räumen der Gebäude der Strasse, so schliesse ich aus dem Zustand des Kellers dieses Hauses, zieren Filme die Wand, die bei Lichteinfall zu spielen beginnen. Boden öffnet sich. Auch die wenig versiegelten Tritte des Gangs zu den Parzellen des Kellers, der offiziell Sous-Terrain genannt wird, der Klausen werden weich und Lehm vermischt sich beim Schlurfen mit kleinen Steinchen, bündelt sich zu Bällen, auch hier unter dem Tisch, an dem ich mit festen Schuhen scharre und zwei tiefe Furchen in den Untergrund ziehe.

Das Gitterfenster des Raums, die kleinen mit Wasser bespannten Löcher brechen salziges Licht. Licht, das durch den langsam schmelzenden Schneeberg vor dem Fenster muss, um sich irritiert im Raum zu verteilen. Das durch den Wetterwechsel und Resten von Kristallen, ihren Lösungen, seinen Weg an die Wand findet, die da lauert.

Hält das Lesen inne. Zu fern ist ein Kaiserreich und seine Symbole. Zu fremd die schwerfälligen Instrumente Krone, Zepter, Schleppe; Gegenstände, die diese Zeit in einen Film verwandeln. Einem Mantel- und Degenfilm mit nostalgischen Rufen nach einem Retter einer siechen Nation, in dem von Wahrheit, Freiheit, Ruhm und Glück gesprochen wird und ein Heldentod noch ein Tod und ein Zeichen bedeutete.

Das ist die Position des politischen Dranmor. Das ist, man möchte ihn nicht mehr als Dichter bezeichnen, man sucht seinen bürgerlichen Namen: Ferdinand Schmid. Oder Fernando, wie er im August 1867 in Rio de Janeiro vielleicht gezeichnet hatte. Schmids Kaiser Maximilian bezieht in seiner Trauer Position und diese muss gelesen werden, jenseits der Endreime. Als Gesellschaftselegie, als Requiem, kraftlos und peinlich in ihrer Form, schmalztriefend im Selbstmitleid. Die wächsernen Zeilen: Ich bin der letzte in der Dichter Reihen; / Mein schwaches Wort hat keinen Widerhall, – / Darf ich der Trauer, die sich überall / Zum Himmel wendet, meine Stimme leihen? /

Er verleiht. Aber nichts an Wissen über diese beweinte Zeit, weder Brasiliens, noch Österreichs, noch der Schweiz. Ein Trauerruf aus der Ferne stösst in ein politisches, vielleicht ein soziales Geflecht. Prallt aber an der Gegenwart ab. Was würde ein Historiker sagen? Ein Philologe schweigt und wendet sich ab.

Die Glühbirne pendelt leise in ihrem Zug und ergänzt, wo sie ergänzen kann, das fahle Licht, das kaum mehr Kraft besitzt, sich in den Raum zu zwängen. Holstein-Gottorf rollt sich ein. Senkt Kopf und Körper in den selbstgeworfenen Schatten, ist pikiert, verletzt, dass er den Schwamm verdecken soll. Und neigt sich vielleicht auch im Respekt vor dem toten Staatsmann, von dem er eben zum ersten Mal gehört hatte. Die Stecknadeln können ihn nicht weiter halten und er schlägt mit seiner Stirn, sich zu Füssen an die bröckelnde Wand.

Sein Rücken, der Rücken der ihn tragenden Leinwand ist pechschwarz. Ein paar helle Krusten, Linien, heben sich von ihr ab. Kurz der Gedanke, ob Holstein-Gottorf nicht vollends umgedreht werden müsste: Er müsste sein eigenes Leid nicht mehr sehen, meines nicht und das der Wände, und: die Rückseite seiner Fürstlichkeit gäbe ein interessanteres Bild. Ein modernes, ein abstraktes, ein Pollocksches Gesprengsel.

Der Angriff ist nicht mehr zu unterschätzen. Des Pilz breitet sich nun wirklich aus und kennt keine Schonung. Fast täglich ist ein bedeutender Raumgewinn zu verzeichnen. Der Pilz ist dieser böse, dunkle, atmende Schwamm, der allem Leben die Luft nimmt: und damit auch die Möglichkeit Kaiser Maximilian zu verstehen, wie die Trauer, die sein Tod erzeugt.

Die Schmidsche Trauer ist nicht mehr verstehbar, kaum mehr lesbar, denn aus ihren Quellen. Ich habe mir die Luftzufuhr abgeschnitten. Roman hatte recht. Es ist nun nicht mehr möglich mich mit Material aus der Bibliothek zu versorgen. Der noch nicht gelieferte Aufsatz, der sich mit Schmids Verhältnissen zum Kaiserreich beschäftigte, beispielsweise. Überhaupt scheint der politische Dranmor versperrt. Die Kolonialberichte, sein Engagement für die Neusiedler und Einheimischen … Das Gefundene sind Präsenzexemplare, Rara in den idealklimatisierten Untergeschossen des Hauses. Eine Einsicht wohl kaum mehr möglich.

Es wird ein grosses Problem geben, diese zu beschaffen. Ob sich jemand vorschieben liesse? Roman hatte recht, als er sagte, man solle sich solange nicht von einer Quelle entfernen, bis eine andere in Sicht sei.

Holstein-Gottorf fällt mit einem leisen Krachen zu Boden. Das volle Ausmass der Wucherungen der Fläche, die von ihm verdeckt wurde, wird sichtbar. Schlimm. Der Stein: schwarz, porös und löchrig. An einer Stelle vollständig durchschimmelt, man kann durch ein kleines Loch, schliesst man ein Auge, in die Nachbarparzelle sehen. Kein guter Ort. Er sollte evakuiert werden. Auch Holstein-Gottorfs angegriffener Rücken spricht für die Feindlichkeit des halbfluiden Gewebes. Alles muss wieder hinauf in die Wohnung, es wird zu gefährlich hier. Ich nehme den Fürsten und den Stuhl beim ersten, den Tisch und einen Koffer beim zweiten, drei kleine Stapel Schriften beim dritten Gang, bin dann schwer erschöpft, atme flach und schliesse den Kellerraum sorgsam ab. Die noch darin befindlichen Dinge müssen auch bald abgeholt werden.

Dranmor VI,1d

(Kein Kampf)

Die Schwierigkeit die Türe zu öffnen. Mit nicht einmal einer freien Hand, mit dem Unterarm, dem Ellenbogen dann, der mit Mühe und Not sich in die Ecke und ihrer kleinen Klinke vortastet, diese erwischt und mit sanftem Druck bewegt.

Die Türe springt knarrend auf. Eingangsglocken läuten: Der dunkle Vorraum ist ein anderer. Will Rückraum sein. Stauraum, Lager, Batterie? Kartons versperren den Weg ins Innere, werden leicht verschoben, dahinter eine in Plastik eingeschweisste Palette, noch einmal gegurtet und verzurrt mit Bändern. Sie wird umgangen. An den Konsolen der Wand entlang. Dort die Computer noch im Tiefschlaf; die Theke – kein geselliger Ort, kein Ort, keine Dienstleistung da, kein Licht, kein Mucks in dieser Welt.

Es ist ja noch sehr früh und ich fühle mich als Eindringling, als unerwarteter Besucher, beschliesse wieder zu gehen, drehe mich nicht um, schlage mich rückwärts durch das Dickicht am Rand des genommenen Pfades, will die ins Schloss gefallene Türe wieder öffnen. Ja, hallo? und Wir öffnen erst am Mittag. Dann: Ach du bist es. und Was machst du denn hier? und Hatten wir nicht gesagt, dass und es sei der reine Zufall, dass man ihn hier anträfe, er würde ja sonst erst mittags da sein, aber es gab eine Warenlieferung schon früh heute morgen, er habe nur wenig Zeit. Ob ich denn nicht arbeitete? Aber, da ich denn nun einmal da sei, er mache uns Kaffee. Die Heizung habe Schwierigkeiten beim Anlaufen, ein Monteur käme heute auch noch, man müsse so lange mit dieser elektrischen vorlieb nehmen, es würde etwas dauern bis sich Wärme entfaltete.

Was ich denn da habe, in dieser Rolle? Ein Bild? Er habe noch nie von Holstein-Gottorf gehört, er könne die Bedeutung von Holstein-Gottorf gar nicht einschätzen. Er macht nicht den Eindruck, als würde ihn die Geschichte von Holstein-Gottorf interessieren. Von ihm und mir, uns beiden, und dass ich ihn vor Verbrennung oder Zerstückelung, Verrottung oder langsamer Verdauung gerettet hätte. Viel mehr, warum ich denn um diese Zeit durch die ergrauten Sandsteingassen der Unterstadt zöge.

Ich reiche ihm den Brief und er runzelt die Stirn, liest ihn langsam; Zeile für Zeile pendelt der Blick zwischen den Begrenzungen des Blatts. An manchen Stellen bewegt er dazu die Lippen. An Stellen, die er wohl für besonders gelungen oder wichtig hält, macht er ein Hmm. Einmal, glaube ich, unterdrückt er ein Lachen. Wiederholt er am Ende die vorletzte Zeile Mit freundlichen Grüssen.

Das sei mit Abstand das Lächerlichste, was er je gelesen habe. Eine Unverfrorenheit sei das, eine, nein, ihm fehlen die Worte, nein, so etwas habe er noch nie gelesen. Das sei doch anfechtbar. Und überhaupt nicht ernst zu nehmen. Jeder erstsemestrige Jurastudent würde einen astreinen Widerspruch dagegen zaubern können. Ich müsse schnell handeln, am besten sofort. Alles würde sicher mit Beschämen zurückgezogen werden.

Und die Anschuldigungen: die seien doch bestimmt frei erfunden. Er glaube nun wirklich nicht, dass ich solche Dinge gemacht habe. Oder auch nicht gemacht habe. Das entspräche ja gar nicht meiner Persönlichkeit. Auf solche Ideen käme doch niemand. Oder doch?

Ich winde mich um das Thema. Es habe mir dort schon lange nicht mehr gefallen. Auch die Leute da. Auch die Arbeit, die aber zugegebenermassen ein paar positive Nebenaspekte hatte. Und: dass sie mir meine Pflanze umgebracht hätten. Unterlassene Hilfeleistung nenne ich das. Und: mir den einzigen Vertrauten entrahmt, ihn ausgesondert, wie sie sagten. Roman lacht ein unechtes Lachen, will mich unterbrechen, kann sich aber nicht gegen die Kraft meines Wortschwalls durchsetzen.

Ich habe noch Ersparnisse, meine ich, und: Ich habe gespart. Und: dass ich wenig Geld ausgegeben hätte, in letzter Zeit – fast nichts, ich könne problemlos ein ganzes Jahr vor mich hinleben ohne nur einen Finger zu rühren, und das habe ich schon länger vor.

Roman entgegnet, ich würde den Anschluss verpassen, so etwas könne man doch nicht auf sich sitzen lassen. Man müsse doch auch mal Zähne zeigen. Ich, wenn ich denn noch in den Spiegel schaue, wolle mich doch wohl auch noch sehen können. Nein, ich müsse schon etwas kämpfen und – wie er es sähe – ständen meine Chancen gut, sehr gut sogar.

Er könne sich ja vorstellen, dass ich nicht mehr arbeiten wolle, dass ich dort nicht mehr sein wolle und offensichtlich wollten sie mich dort auch nicht mehr. Aber dann solle ich doch wenigstens versuchen, eine angemessene Abfindung zu erstreiten. Ich könne ja dann vielleicht zwei Jahre nichts tun, oder was auch immer ich dann täte.

Das sei vielleicht gar keine schlechte Idee, ich würde mir das überlegen. Ob er mir denn vielleicht dabei helfen könne, ich habe ja keine grossen Erfahrungen mit dieser Art Korrespondenz. Überhaupt: mit der Formulierung solcher Forderungen.

Das sei aber ganz schlecht jetzt. Ich sähe ja, er habe zu tun und müsse bis Mittag den Raum freigeschaufelt haben. Er müsse auch sofort damit anfangen. Ein andermal gerne. Vielleicht bald. Wir würden uns anrufen und darüber sprechen. Er werde sich das noch einmal überlegen.

Beim Hinausgehen. Ich müsse mir aber darüber im klaren sein, oder ob ich mir denn Gedanken darüber gemacht hätte: Wie ich denn nun an die Quellen käme, wenn mich Dranmor denn überhaupt noch interessierte, wenn ich noch das zu tun gedenke, was ich vorhatte.

Dranmor VI,1c

(Drei Vögel Feuer)

Und geht wie es kam. Als Wochenende. Denn es hat Grenzen an beiden Enden. Die Grenzen mit den undichten Stellen, Öffnungen in andere Räume. Welche? Zum einen der Raum mit den zwanzig Watt: hinter Milchglas. Dem kleinen Feuer, das sich auf Verlangen, einer Drehbewegung, entzündet und wieder löscht. Und dem anderen: hinter einer unsichtbaren Mauer am anderen Ende der Woche, die sich in den Werktag schleppt, die nur eine einzige grosse Passage ist. Dazwischen: leerer Körper. Ein paar Dinge: eine Schwelle, eine Strasse, eine Bahn, die darauf fährt, ein Glockenturm, darunter ein Kiosk, an dem ich Zigaretten bekomme, die Tauben davor, die sich ihre Schnäbel am Pflaster wund stossen. Ein Tauber: zu schwer ist die Luft. Er wird mehr geahnt als geschaut. Es folgen Arkaden, dann Stufen, zuletzt die stolze Holztüre mit ihrer Messingklinke. Sie klinkt nicht. Ächzt ein bisschen unter dem Druck der Hand. Auch das Schloss stimmt dem Ächzen zu, nach einer Drehbewegung.

Die Befürchtung des Taubers stellt sich als unbegründet heraus. Die Luft im Büro hatte sich, nach dem ersten Atemzug, nicht verdichtet, aber, auf den zweiten Blick: ausgetauscht. Der Platz des Kollegen – immer noch verwaist. Die Holztäfelung der Wände scheint nun komplett erneuert. Maria? Auf ihrem Platz, auf der Mitte des Simses unter dem fehlenden Holstein-Gottorf, nun ein alter, verstaubter Holzfalke. Kitschige Buchstütze. Woher? Wohin damit? Auf die gelöschten Regale? So hoch steig ich nicht, wehrt er sich, und ich greife ihn gar nicht erst an. Maria findet sich in einem Mülleimer. Gebrochene, verholzte Blätter in einer Sosse aus Algoflash und Kugeln einer untergegangenen Hydrokultur. In einer nahrhaften Pfütze, die schon nicht mehr nährt. Die in ihrer Intensität tötet. Tote Maria.

Holstein-Gottorf ist nur noch Leerstelle und kaum mehr spürbar. Wo sind die Bücherberge? Die Zettel, die hier sonst liegen und fliegen und ihrer eigenen Ordnung gehorchen? Wo die Lexika, die Instrumente meiner Arbeit, die Ordner mit den vielen Unterlagen, die nur noch lagen, der Rollkasten mit dem Register, der Computer? Überhaupt: der Drucker?

Schritte auf dem Gang. Ich drehe mich um, schaue vorsichtig hinaus. Nur ein gerade um die Ecke gebogener Schatten. Niemand. Auf meinem Schreibtisch noch das Körbchen mit den Stiften und Schreibern, und die kleine Ablage aus zerrissenem Plastik. Und in der Mitte, im Schwerpunkt des Bildes: ein Brief. Offiziös. Gestempelter Umschlag. Ich überfliege:

Sehr geehrter Herr …  Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen … fristlos … die unten genannten Gründe … zusammen mit Ihrem Resturlaub … bitten wir Sie fristgerecht … Ihre Schlüssel bitte an den … ein Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten möglich … Ihre Rechte … das Zeugnis per Einschreiben … Viel Erfolg auf Ihrem weiteren … die Geschäftsleitung …

Es wurde also ganze Arbeit geleistet. Nichts, fast nichts, was noch mitzunehmen wäre. Nichts zu retten. Im kleinen unter dem Sims eingelassenen Schrank vielleicht. Er sieht noch unrenoviert aus. Ich habe den Schlüssel nie aus der Hand gegeben. Wenn man es nicht weiss, man käme nicht auf die Idee, dass dort ein Schrank ist, so getarnt. Darin ein paar Mappen mit Aufzeichnungen, Kopien von Faksimiles, auch: Ein Blatt aus einer Erstausgabe. Die Drei Vögel Ferdinand Schmids, so zeichnete er damals noch. Ich packe das Konvolut eilig zusammen, rechne mit meiner sekündlichen Entdeckung. Schliesse den Raum. Packe die Schlüssel in einen Umschlag, schreibe einen Namen darauf und lege ihn vor eine Türe. Im Gang ist es ruhig. Keine Menschenbewegung auf dem Weg zum Aufzug. Muss ich mich noch verabschieden? Bei dem einen oder anderen? Eine E-Mail scheint mir unproblematischer. Nein, ich werde, um keine persönlichen Worte fnden zu müssen, das Gebäude durch den Hinterausgang verlassen. Der Aufzug hält im Souterrain. Auch dort keine Menschenseele. Ein paar Geier flattern den Gang auf und ab. Zu spät, ihr Bescheid. Immer wieder: Zu spät! Ich muss mich durch diesen Urwald aus altem Büromaterial und Aussonderungen durchschlagen. An der Müllpresse vorbei. Sie streift ein Blick. Darin: die Dinge, für die es tatsächlich zu spät war. Die Mulde ist geöffnet, und ein letzter Jagdeifer angestachelt. Ausgeschiedene Schriften, Bücher, Kartonagen. Alte Wochenzeitungen. Darunter etwas Leinwand. Eine Ecke meines geliebten Holstein-Gottorf. Er lässt sich mit etwas Widerstand hervorzerren. Entrollt sich. Man hatte ihm seinen Rahmen entfernt, ihm den Rahmen genommen, damit er fassungslos entsorgt werden konnte. So sollte er gepresst werden. Zu einer alten Matte erst, dann verfeuert.

Holstein-Gottorf wird gerettet. Zusammen mit den drei Vögeln. Draussen schlägt es acht und das Feuer muss sich andere Opfer suchen. Draussen sind Vögel zu hören. Ein Schwarm Sabias vielleicht, aus Falken, Tauben und Geiern. Der Aufzug geht und kommt und ich öffne die Türe zur Rückseite der Bibliothek. Acht Stufen, bröselnder Beton, ein halber Handlauf. Holstein-Gottorf wird enger gerollt und schmiegt sich unter meinen Arm. Ich weiss einen neuen Rahmen für ihn. Einen würdigen. An der neuerlich dunklen Stelle des Kellerzimmers gleich über dem Berg, der nicht mehr wächst, ist sein Platz.