Dranmor VI,1b

(Sabia)

Das müsse ich unbedingt ändern. Er verstehe ja, dass es unter dem Dach im Moment nicht auszuhalten sei. Ob ich ihn denn nicht in die Wohnung bitten möchte, er möchte mir etwas zeigen. Und im Keller sei es doch, er sagt: eher beängstigend. Nicht so beängstigend wie unter dem Dach, natürlich. Ja, der Holzboden dort, die Wände seien, nein, so etwas habe er noch nicht gesehen. Aber hier unten sei es einfach zu kalt. Kein Wunder, müsse ich die ganze Zeit husten und mir laufe die Nase.

Und der kleine Heizstrahler würde gar nichts bringen, würde nur Strom fressen. Würde nur nehmen und nicht geben: in der Wohnung sei er bestimmt besser aufgehoben. Und hier unten: das sei doch kein Zustand. Wer mich denn auf diese Idee gebracht habe? Überhaupt: ich könne doch noch nicht arbeiten, nicht in diesem Zustand. Weder hier noch dort. Ich gehöre eigentlich ins Bett.

Das könne er doch gar nicht beurteilen. Und vorbeischauen hätte er auch nicht müssen. Die Wohnung sei nun einmal, ich nenne sie so: unbetretbar. Wenn er schon unangemeldet vorbeikomme, müsse er, jetzt zumindest, mit dem Keller vorlieb nehmen. Ich schenke ihm ein Glas ein und er lehnt ab. Es sei noch nicht einmal fünf.

Er habe mir den ganzen Band vorbei gebracht. Er brauche ihn nun nicht mehr. Darin sei auch das Lied aus der Verbannung zu finden. Ich könne ihn gerne behalten. Er könne damit nichts mehr anfangen. Darin auf den Seiten 173 und 174 das von mir gesuchte. Das seien wohl die Seiten, die in meiner Ausgabe fehlten. Er glaube aber nun nicht, dass es sich dabei um eine Verschwörung handelte. Ein Bindefehler im Jahre 1900. Man habe da bestimmt nicht an mich gedacht, oder wollte irgendjemanden verwirren. Es sei bestimmt keine Verschwörung im Gange und ich hätte ruhig zur Arbeit gehen können, er hätte ihn mir auch dort zukommen lassen können.

Es täte ihm nun auch wirklich leid, dass er das so aufgebauscht habe. So wichtig sei das Lied aus der Verbannung auch bestimmt nicht – er habe wohl etwas übertrieben, als er sagte, hierin läge der Kern einer Dranmorschen Poetologie. Im Übrigen zweifle er mittlerweile daran, dass es überhaupt so etwas gäbe. Bei ihm. Aber, ich hätte ja noch drei Wochen bis zum Einsendeschluss, vielleicht sei da noch etwas zu machen. Er sage ich, weil er sich wahrscheinlich aus diesem Projekt zurückziehe. Er glaube nicht, dass sich in diese Richtung noch irgendetwas entwickle. Nicht bei ihm, er sei nun an einer anderen Sache dran. Wie es denn mit mir stehe?

Roman lacht, als ich ihm sage, dass ich auch unter anderem deswegen in den Keller umgezogen bin – nein, nicht gezogen, schliesslich schlafe ich ja noch in der Wohnung, die aber, wie gesagt nicht mehr betretbar, nur noch beschlafbar sei. Er schüttelt den Kopf, soviel ist aus dem Augenwinkel erkennbar, während ich die Zeilen überfliege: Die Palmen und die Heimat und die Blätterkronen. Und Uns begrüsst der Sabia. Wer ist dieser Sabia? Ich muss das recherchieren. Der Waldesschatten und der Liebe Zauberreich, die trüben Winternächte und wieder der Sänger Sabia. Sehnsüchte, Palmen flüstern und ein Gruss von Sabia?

Es sei kalt, und wenn ich ihn nicht in die Wohnung bitte … Nun, er müsse ja auch noch etwas erledigen. Er werde jetzt gehen. Ich könne mich ja wieder bei ihm melden, wenn ich etwas bräuchte. Zur Eingangstüre finde er selber, ich müsse mir keine Umstände machen. Aber da, hinter diesem Müllberg, das schaue ja gar nicht gut aus. Ich müsse das unbedingt beobachten. Das sei zwar noch gefroren, aber was, wenn es auftaue? Ob denn der Keller überhaupt dicht sei?

Und er helfe mir auch gerne, wenn es gar nicht mehr anders gehe, wenn ich mich entschliessen könne, die Wohnung aufzuräumen oder betretbar zu machen oder überhaupt zu betreten, sonst ändere sich nichts. Ich müsse wohl etwas pragmatischer werden, und geht.

Ich murmele etwas, während ich winke. Habe ich abgewunken? Nein, es steckt tatsächlich nicht viel für mich Neues dahinter. Die bekannte Idealisierung einer fiktiven Heimat im Reich einer tatsächlichen Idylle. Lass, o Gott, erst dann mich sterben, / Wann mein Land ich wiedersah, / Und die Heimat mich beglückte, / Wie es hier noch nie geschah; / Wie die Palmen es verkünden / Und der Ruf des Sabia //.

Im Brockhaus ist kein Eintrag zu Sabia zu finden. Erst im Internet finde ich einige Treffer. In einem medizinische Online-Lexikon finde ich einen Hinweis. Sabia: Brasilianisches hämorrhagisches Fieber, zugehörig zu der Familie der Arenaviridae.

Dranmor VI,1a

(Der Keller, das Dach, die Räume dazwischen)

Ob es denn wieder gehe, wird leise gefragt. Was es denn gewesen wäre. Nichts Schlimmes, hoffentlich. Jaja. Neinnein. Nichts besonderes. Naja. Ich solle erst einmal ankommen. Der Kollege sei ja im Urlaub. Das ganze Büro gehöre also mir alleine. Praktisch, nicht? Ganz langsam also. Hören Sie? Und: Nun, es sei ja ein bisschen viel geworden. Es sei etwas zusammen gekommen. Da habe sich etwas angehäuft. Und leider habe niemand aushelfen, einspringen, anpacken können, so der direkte Vorgesetzte. Ob denn niemand Maria gegossen habe? Sie sähe etwas mitgenommen aus. Um genau zu sein: tot.

Oh. Die habe man ja völlig vergessen; niemand habe daran gedacht, und der Büronachbar sei ja auch schon drei Wochen im Urlaub. Und: man glaube, niemand sei in der Zeit im Raum gewesen. Aber wo denn das Bild sei? Welches Bild denn? Na, Holstein-Gottorf, der gute Geist des Zimmers. Ach ja, den hätte man entfernen müssen. Der sei jetzt irgendwo. Wie ich sähe: die Holztäfelung an der Wand musste etwas erneuert werden. Ob ich mich darüber freute.

Ich freue mich nicht über diese Veränderung. Nicht jetzt und nicht die folgenden Stunden. So sehr, dass ich im Alleinsein das Dasein vergesse. Es wird ein kurzer erster Arbeitstag. Die Mails, die beantwortet werden, indem sie gelöscht werden. Die meisten. Ein paar sind nach der Triage übriggeblieben. Ihre Zeit wird noch kommen. Eine längere Nachricht von Roman. Ich überfliege sie, atme durch, leite sie an meine Privatadresse weiter.

Die Buchberge sind in eine erstaunliche Höhe gewachsen. Ich schichte sie um, ordne sie nach Belieben – ist die Menge nur gross genug, sind plötzlich alle Ordnungen möglich. Die Ordnung des Tages, nun: das Lustprinzip, wie man mir riet. Nach dieser Arbeit die baldige Erschöpfung. Sicher! Ich könne schon gehen. Nur nichts überstürzen, morgen sei auch noch ein Tag.

Schneematsch auf den Strasse und ihren Rändern. Feuchte Klumpen. Das Schmatzen der Schuhsohlen nach ihrem Abheben. Bündigkeit zwischen grauem Strassenbelag und den Schienen. Um aus der Strassenbahn auszusteigen, um das Trottoir zu erreichen, genügt ein kleinerer Sprung. Der Weg vor der Wohnungstüre wurde vor kurzem gestreut. Umsonst. Von wem?

Ich lebe nicht in einer Leere. Die Situation unter dem Dach ist nicht nachträglich mit bunter Farbe zu schminken. Die Dinge klingen hier einfach nicht mehr. Laut gelesene Wörter passen nicht mehr aneinander, ineinander. Das Echo fehlt, der Rückruf – jene Interferenz, die entsteht, wenn ich den Satz an die Wand, also gegen die Dachschräge schreie und nichts kommt zurück und nichts bricht sich in sich selbst und verzerrt das Gesprochene. Und macht es vermeintlich verständlich.

Die leise bewucherten Wände des Dachstuhls mit diesem Schwamm, die neue Verständlichkeit, zerstört diesen Ort, diesen Kopf des Hauses, das, nicht wie ich hoffte, aus Wörtern war, sondern aus Holz, das zu erodieren beginnt, an manchen Stellen feucht an anderen zerbrechlich, entflammbar oder möglicher Wirt eines Ekels. Hier entsteht, ich muss es realistisch sehen, kein Gedanke mehr, mit dem Blick auf den Daumen, da das Buch, die leeren Blätter und den kleinen Tisch mit den Kaffeerändern und verstreuter Asche darauf.

Der Tisch muss zuerst hinunter. Ist dort noch Platz? Ganz hinten vielleicht. Es muss erst noch untersucht werden, ob ich dort mit den Dingen hineinpasse. Es muss wahrscheinlich aufgeräumt werden im Keller. Der März ist feuchter als die anderen Monate. Es ist mit quietschendem Kies zu rechnen. Und mit verstaubtem Schotter zwischen Kisten und Kartons und ihrem Ausgeräumten, Zerwühlten, Zerstreuten. Und ob das Licht noch geht? Die kleine Glühbirne mit ihrem Webenvorhang und der brüchigen Kordel.

Der Abstieg ist unbeschwerlich. Die zweiundfünfzig Stufen: nur noch jede Zweite weiss ein Lied, einen Teil davon, singt und summt: ich war im Wald und ich eine Pflanzung. Die dunklen Stellen: glleichmässig dunkel. Dunkler als zuvor, aber nicht unangenehm dunkel. Anthrazit.

Der Schalter in einer zersprungenen Porzellanfassung. Fühlbar isoliert. Der Gang zum kleinen Kellerraum an den Drahteseln vorbei. Wem gehören sie? Es gibt wohl keine Besitzer mehr. Nur noch unsichtbare Eigentümer, die nichts mehr begreifen.

Der Raum am Ende des Ganges ist offen. Ich habe beim letzten Mal – wann war letztes Mal? – vergessen zu schliessen. Eine Holztüre aus verstrebten Latten. Sind die Dinge dadurch entkommen? Die Kisten und Kartons unberührbarer Erinnerung. Die flüchtigen Geständnisse, übrig geblieben, die letzten Jahre untrennbar mit ihren Verpackungen und diese mit ihnen verbunden. Zu Schotter geworden: Bücher, Schriften, Altkleider.

Wie vermutet hat sich eine eigene Ordnung eingestellt. Die Ordnung der Zeit, die alle Dinge an die Ränder drängt; und von dort wieder in die Mitte. Der Berg Allerlei und seine Schluchten und Falten, seine Hügel und Landschaften. Warum nicht unter dem Dach bleiben? – es würde vielleicht langsam angenehmer werden. Der Frühling unter dem Dach wäre sicher nicht zu verachten. Aber: die Lektüre stagniert, das Schreiben versandet, die Bilder: Schotterbildung.

Nein, hier ist der richtige Ort. Und hier ist auch ein Stuhl. Ich stelle ihn in die Mitte des Raums, nachdem der Allerleiberg seine Ecke bekam. Und vor diesen Stuhl passt der kleine Tisch und darüber baumelt die Lampe. Die Kordel gibt es auch noch. Sie zeigt einem Luftzug den Weg.

Ich setze mich. Es ist nicht die Erschöpfung, heute, es ist das Gegenteil, das Heim- und Ankommen, die Bahnfahrt, der Schneematsch und das Schmelzen der Dinge. Das Dachzimmer, in dem ich es mir eingerichtet hatte, es würde wärmer werden: und das sich nun anders belegte und indem nichts passieren würde. Der Tisch muss in den Keller. Das Buch und ein paar Seiten. Die Stifte.

Der kleine Umzug ist die Aus- und Einwanderung. Binnenexilierung. Sind sie neu hier? Ja, ich komme von oben und freiwillig. Nicht ganz freiwillig. Immer auf der Suche nach, aha, productiven und productionsfähigen Gegenden. Und: Eigenthümlichkeiten. Sie: Sklave einer Halluzination. Denken Sie wirklich, hier gehe es besser? Wie manche Existenz ist nach solchen Träumen im Elend untergegangen. Jaja, der saure Beigeschmack des Exils, ich warne Sie. Es ist wirklich nicht schön hier. Kein sternenklares Diadem. Kein Brasilien auf den ersten Blick. Lustlos platziere ich den Tisch vor dem Stuhl.

Dranmor V,4

(Die Kreuzwörter)

Es gibt viel auszufüllen. Manche Wörter sind zu kurz, haben zu wenige Zeichen. Ich mache ein X an den leeren Stellen.

O mein einsam – einsam – einsam Kissen, / Wo bleibt mein Herzensfreund, der süße, traute? / Ist es sein Schiff, das ich im Traum erschaute, / Weit, weit von hier, von Stürmen fortgerissen? / Dreimal einsamer noch die Gegend dieser Strophen. Sie wird an Byron adressiert. Fünf Buchstaben. Ich schaffe es nicht irgendeine Verbindung herzustellen. Totaler Blackout. Dagegen die Logik des Kreuzworträtsels: leere Felder, weisse Kacheln, die dunklen, in denen die Umschreibung, die Hinweise auf die gesuchten Begriffe stehen müssten – schwarz. Eine Badezimmerwand. Das Rätsel also nur ein Muster, eine Struktur, die beliebig gefüllt werden könnte. Lateinamerikanischer Staat mit vier Buchstaben. Peru. Hervorstechend, schwanger, engl.: pregnant. Was macht eigentlich die Schwangere? Hat sie sich eine neue Höhle zum Austragen gesucht? Überhaupt: Ist dieses Haus denn noch bewohnt? Ist mein In-diesem-Haus-Sein noch als Wohnen zu bezeichnen? Teil einer Wohnung. Sechs Buchstaben: Zimmer. Oder doch Keller? Im Keller liegt noch etwas Stoff. Aber: ruhig Blut. Das Wetter, kalt und trocken. Es ist mit keinen Überschwemmungen zu rechnen. Den Keller nehme ich mir im März vor. Bald. Landwirt mit fünf Buchstaben. Literarische Gattung, fünf Buchstaben.

Kein Drama. Er könne nun wirklich nicht sagen, woran er gerade arbeite. Aber er habe da noch etwas gefunden. Er könne, das müsse ich doch verstehen, diese Quelle nicht so einfach preisgeben. Hätte ich aufmerksam recherchiert, wäre ich möglicherweise von selbst darüber gestolpert. Hätte ich darüber stolpern müssen! Ich arbeite ja an der Quelle. Wer, wenn nicht ich … Er müsse sich schon wundern. Schon gut. Eine Öffnung. Eine ganz neue Perspektive, die sich da auftäte. Eine, die ihm doch sehr läge. Die mir wahrscheinlich auch liegen würde, aber er habe sie nun einmal gefunden, als erster, und er wird mir rechtzeitig Bescheid geben, wenn er sie bearbeitet hätte, wenn daraus etwas entstanden wäre. Das sei nun aber vorerst sein Feld. Ich könne mir ja ein Feld um diesen Komplex herum aussuchen, wenn es mir zusagte, wenn ich mich nun einmal damit beschäftigen wolle. Aber so. So Roman.

Reine Stoffsache, als ob er ihm gehörte. Als ob nicht auch die Verarbeitung eine Rolle spielte. Anmassung. Dummheit. Acht Buchstaben. Weiss ich nicht. Abwarten. Die Seite mit den vielen Kästchen: zunehmend zerlöchert. Woher eigentlich kommen die Löcher. Ein reiner Verdrängungsprozess. Ich suche mir eine feste Unterlage, um nicht weiter durch das Papier auf die Matraze zu schreiben, finde sie im Küchentisch. Dort ist natürlich nicht an ein Einschlafen zu denken. Und die Einschlafhilfen: Kreuzwörter, die dem Denken ein Ziel geben. Die ein Denken ohne die Dinge ermöglichen. Die auf Kombinationen setzen: Auf sinnfreie Einpassungen. Grossstadt in Brasilien. Drei Buchstaben. Teil eines Bettes. Sechs.

Ich muss noch einmal über die Bücher. Etwas wurde übersehen. Der dürftige Vetter-Aufsatz. Die anderen dünnen Spuren. Daraus ist keine Mordsgeschichte zu konstruieren. Keine literaturgeschichtliche Relevanz verbürgt. Kein Realismus zu extrahieren.

Es müsste mit der Psychologie Dranmors gespielt werden. Mit einer gemutmassten. Buliz, Fungi, fünf Buchstaben. Und die Motivation. Die Motivationen und ihre Analyse: Warum gereist wurde. Warum geschrieben wurde. Geltungssucht? Schreibwut? Liebhaberei? Liebe?

Eine Reihe von Feldern ist immer noch zu beschriften. Zu gross die Löcher in den Kästchen. Die Trennlinien einiger Felder sind nicht mehr erkennbar. Wurden ausradiert. Zeichen fliessen aus ihren Zellen in benachbarte. Tauschen sich aus. Verbinden sich. Schaffen oben und unten neue Bedeutung, verändern die Frage. Was denn wichtiger sei: Die Frage oder die Antwort. Oder die Tatsache, dass alle Felder gefüllt, dass entsprechende Zeichen, Buchstaben gefunden würden und mit ihrem Umfeld übereinstimmten. Harmonierten. Oder dass überhaupt etwas auf dem Papier stand, das wahr oder möglich sein könnte, auch jenseits und unabhängig vom Gefragten.

In Brasilien ist es jetzt bestimmt schon warm. Schwüler Tag. Und in Peru. Das Wetter auf der anderen Seite der Welt meistens besser. Gefrorenes mit drei Buchstaben. Ich muss lachen, als ich die Zeichen rückwärts einsetze: sie.

Ich muss mich noch einmal über die Bücher machen. Habe ich einen Aufsatz übersehen? Wie gut, dass ich morgen wieder arbeite. Dass ich in vier Stunden wieder aufstehen werde, um zur Arbeit zu gehen. Um dort die Zeit zu nutzen. Um zu suchen. Leider liege ich noch nicht und schlafe. Ich müsste schlafen, liegen, um dann aufstehen zu können. O mein einsam, mein betrübtes Kissen /.

Dranmor V,1e

(Stimmen, Stile, Siegel)

Nach der rezepturgemässen Einnahme geht es viel besser. Fängt es langsam zu wirken an. Alles wird viel hörbarer. Man könnte nur davor warnen, zum Beispiel, hat sie gesagt. Auch wenn es als unzeitgemäss und damit als altmodisch gelte. Aber die Konformitäten und die Massgaben der Trendsetter – was die denn bedeuteten. Und Goethe und Goeze und natürlich Lessing. In dieses Krankenbett hinein, und es ist nichts bestimmtes, also kuriere ich, wo nur möglich, so vor dem schwächelnden, frierenden Fernseher. Und noch ein paar andere, rollte sie das volle Programm aus. Und die Franzosen und Engländer und Deutschen. Deren Fussspuren, Abdrücke, Merkmale, Stempel, Prägungen und Zeichen. Und sie sagte und meinte damit Stil. Und meinte mich, als sie das sagte, so scharf sah sie in die Kamera, dass nur ich gemeint sein konnte. Erwähnte Originalitätssüchte, die nichts Schlimmes waren, nein, wenn man sich heute so umschaue: die Heutigen – nur noch asketisch, diesbezüglich.

Die Auftaktveranstaltung des Fernsehlesens, des Wettlesens von dem ich mir viel Schlaf und Erholung verspreche, hatte bei ihrer veranschlagten Dichtheit meine alte Kiste ermattet. Nach einer kleinen Stunde schon ein Hitzestau, innerlich, aussen zeigt sie immer noch Gänsehaut, verabschiedete sich, und mit ihr die reizende, aber strenge Cosima Tarni, Jurorin und Moderatorin des Lesewettbewerbs der Nachwuchsautoren. Und ihre letzten Worte: Auch bei der Lektüre eines Buches lautet eine der interessantesten Begleitfragen: Wer spricht gerade? Dann fiel ihr die Unterbrechung ins Wort. Und es hallt nur noch nach: Wen kümmerts, wer spricht? – die tödliche Frageantwort. Und dass die Zäsur an dieser Stelle fällt, leuchtet sofort ein, denn die Mütter wissen: „Wenn es am schönsten ist, soll man gehen“. Dies im Sinn. Und das also demnach die schönste Stelle der Eröffnungsrede, nein, des Appells an die jungen Nachwuchsautoren, der so richtig motivieren soll, und motiviert und den nun entkoppelten Zuschauer, das bin ich, dazu zwingt, das Radio einzuschalten, das parallel dazu überträgt. Ohne Bilder freilich. Ohne diese Art von Bildern. Und die weitere Antwort, geht es in mir fort, auf den erschöpften Satz, die ewige Antwort auf diesen affirmativen Autorenplatz, wenn es schon niemanden kümmerte: dass die Menschheit nur ein Sandgesicht aus Worten sei an einem Strand, der sich langsam ebnete.

Im Radio klingt die bildschöne Cosima noch tiefer. Die Tradition habe oft die Stimme als Signum der Seele begriffen, sagt sie gerade, und schliesst Untertöne und Obertöne an. Und all die Innereien: Kehlköpfe, Brusträume, sie meint wohl das unverwechselbare Lungenvolumen Kafkas. Und was ein Künstler sei. Aber die trostlose Befindlichkeitsprosa, es gehe schon in Lärm über, und neuer Lärm brauche kein Mensch, er mache nur taub. Und am Ende: Wortabfall. Bei diesem Begriff werde ich hellhörig und stelle das kleine Radio lauter. Das, um die fehlenden Gesichter durch Lautstärke herzustellen, die irgendwo das Siegel trügen, als Häute über den Kehlköpfen, Brustkörben, Stirnen und Schädel, der weichen Masse darunter, die diese Bilder in jenen Stilen mit Worten erzeugten. Also auch dort, wo auch der Abfall entstünde. Wenn man nicht aufpasst und sich nicht an die eigene Nase fasst.

Cosima Tarni spricht solche bedeutenden Worte aus, und ein Moderator erklärt sie mir noch einmal. Und kündigt weitere Dinge an. Und der Applaus. Und die Stimme eines weiteren gesichtslosen Mannes mutmasst über die Befindlichkeiten der jungen Autorinnen und Autoren, die im übertragenen Sinne noch hinter dem Vorhang warteten und heute und die nächsten Tage noch bangen werden, vor dem harten Urteil der stilsicheren Kritik. Und da wäre schon der erste, der dort in einem Startloch sässe, und schwitze und auf seine Lesung und die dazugehörige Dusche warte. Und seine Mama hatte wahrscheinlich zu ihm gesagt: Langsam laut lesen, hörst du. Immer wieder. Und den kleinen Kampf, stelle ich mir vor, und die verperlte Stirnglatze, die ich leider nicht sehen kann: Soll ich nun langsam und laut lesen, oder soll ich den Text vortragen und ihn dort liegen lassen und wieder gehen. So dass sie sich alle daran bedienen könnten und daran reissen ohne mich. So dass sie ihn alle verstehen könnten, wie sie wollten. Weil die Stimme ja auch Stil eines Textes, und seine heute, wegen des vielen Vodkas gestern, eher brüchig und belegt. Und weil etwas ganz anderes aus diesem Kehlkopf oder weiter unten aus dem Brustkorb herauskäme. Birnen statt Äpfel. Etwas Musik, oder ist es schon Werbung?

Ich sehe mich an der Stelle dieses jungen Mannes, der nun mit den Händen fuchtelt, daran zweifelnd, ob das, was da gerade von ihm gelesen wird, auch von ihm stamme. Dann mache ich ein Sandgesicht und trete ab, bevor ich geduscht werde, und muss hinter dem Vorhang langsam und laut lachen. Dann ist die Musik zuende.

Und wer den kleinen Meerjungfrauenpreis verdient und das Neue so gedacht hat, und wer die Tage der Neuen Literatur vermisst. Man kann es noch nicht sagen … Eine seltsame Überleitung. Und noch einmal wird aus einem Manifest zitiert, und eine fremde Stimme bemächtigt sich einer anderen. Eines noch fremderen Sprechens.

Und dann kommt endlich der erste Dichter. Ein schüchternes Guten Morgen. Er werde etwas aus seinem noch unveröffentlichten Schelmenroman vortragen. Seine Stimme ist verwuschelte Frisur und sein obligatorisches schwarzes Hemd hat darum pizzagrosse noch dunklere Flecken unter den Armen. Lullt etwas ein. Verpackt den als Schelmenroman gesiegelten Text in Watte und nur ein paar Schlagwort dringen aus diesem Kokon. Eine Brasilia und ein Maulwurf, der von ihr spazieren geführt wird. Er errötet sichtlich, auch die Anspannung des Publikums und der Jury ist deutlich hörbar, bei diesem etwas seltsamen Einfall. Dann wieder übertönt durch das Geraschel beim kollektiven Umblättern des Autors, des Publikums, der Jury, des kompletten Studios, das den Text mitliest und verfolgt, aus den ausgehändigten Blättern. Wort für Wort. Pause für Pause. Manchmal ein zum Hüsteln unterdrücktes Husten, man weiss nicht ob des Autors oder eines Jurymitglieds, dessen Mikrofon nicht ausgeschaltet wurde. Nein, die Frau, die er liebte hiess nicht Brasilia. Es war das Land. Oder war es der Maulwurf?

Unterbrechung. Unschöne Szenen. Das sei ja eine Katastrophe. Nicht der Text, der natürlich auch. Und nicht der Autor, der natürlich auch. Die Stimme: furchtbar. Das gehe so nicht. Das werde sie sich nicht weiter bieten lassen, eine aufgebrachte Jurorin, die nur schwer, wie ich mir vorstellen kann, von Cosima, zu bremsen ist. Das sei nun genug. Dem könne man nicht weiter zuhören. Er solle doch wieder nach Hause gehen. Er oder sie, man könne sich entscheiden. Ein Wasserglas fällt um. Ein Stühlerücken. Publikumsraunen. Unruhe. Jemand lacht. Für unsere Zuhörerinnen und Zuhörer … Der Autor sei nun gegangen, so ein Moderator, das sei schade. Seine Stimme hielte einfach nicht. Schade. Kein Siegel. Noch ein paar Worte. Der nächste bitte.

Nein, es geht immer noch um Brasilia und der Autor ist nicht unterbrochen worden. Er liest immer noch langsam und laut, wenn auch etwas genuschelt. Aber nun ist Müdigkeit da, endlich. Die Dusche warte ich nicht mehr ab, sondern schalte das Radio aus. Es stöhnt ein wenig.

Manchmal muss man rechtzeitig ein Fazit ziehen. Man muss nicht jedem Dichtertod beiwohnen. Man muss ein Gehörtes nicht immer in Bilder umwandeln. Man sollte diese Berechtigungsstile hinterfragen. Man muss auch abschalten können. Vor allem bei einem Märchen.

Dranmor V,1d

(Nachtwachen und ihre Bilder)

Und der kalte Tag. Frost. Ein Frosttag, der die Ziegel auf den Dächern platzen lässt, das Krachen unter dem Dach, zehn Zigaretten, zwölf, um die Teile des Pilzes, der sich nun auch dort Raum verschaffen will, zu beeinträchtigen, vornehmlich, um mich zu beruhigen.

Man würde mich gerne mal wiedersehen, so die Leitung. Ob ich denn noch wisse, dass ich übernächste Woche eine kleine Veranstaltung abzuhalten hätte. Ob ich sie überhaupt durchführen könnte, nach den vielen Absenzen. Ob man nicht etwa jemanden anderen … Ich sagte, es ginge mir bestimmt bald wieder besser. Und bis dahin wäre auch März, als wäre das ein Grund der Besserung. Nur diese drei Tage, es käme ja auch noch ein Wochenende und danach, auch wenn ich nicht präziser sagen könne, was es sei, wäre ich wieder voll dabei. Ich sagte einsatzfähig. Das zur Abteilungsleitung, die schluckte.

Der Tag hängt durch und biegt sich langsam in den Abend. Und keine Replik von Roman auf meine Mail. Auf den Gesprächswunsch. Den ganzen Tag online und alle fünf Minuten das Postfach aktualisiert. Und nichts. Und nicht einmal eine Notiz. Ob er überhaupt da ist – in der Stadt. Oder ob er Bern geflüchtet hat. Oder die Mail nicht ankam. Oder.

Und der gutmütige Wind heisst Willkommen, pfeift immer noch durch die öde Strasse. Kein Blitz oder Wetterleuchten oder Hagel, der ihn vertreiben könnte. Aber die Pfiffe schon kraftloser und das Treppenhaus damit unsicherer, so dass mir der Ausgang verwehrt bleibt und die Bestückung des Haushalts und des Kühlschranks und des Schranks mit den vielen Sachen sich verschiebt. Kein Wort, kein Laut vom Geschoss über mir. Ist sie nun auch weg? Arbeitet sie etwa noch? In ihrem Zustand? Das legendär paradoxe Schweizer Mutterschaftsgesetz. Es ist aber noch Knäckebrot da, und harziger Streichkäse, und Wein. Und alter Kirschschnaps von einem Bodenseeonkel. So wird der Flur langsam dunkler. Keine Seele mag sich regen und kein gebrochener Hals, gäbe es ihn. Die Abwesenheit von Bewegung über mir macht nervös. Eine Abwesenheit, die Bewegung erzeugt und ein Einsinken in Ruhe verhindert. Zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Uhr? Nur ein verschlafener digitaler Balken eines Weckers macht den Unterschied.

Und an dem Regal entlang fahren. Das Buch berühren, das mit dem Nagel oder Stift – ich fasse es sehr vorsichtig an und schütze den genesenden Daumen, den fast gesundeten. Rascheln. Blättern. Ein seltsamer Durchschuss auf der 114. Seite hält sie fest. Dort eine Gedicht mit dem Titel Nachtwache. Und Inselträume. Sanct-Helena! Grünes Eiland!. Und so weiter. Heiligehelenenstimmung. Und: Mein sei diese Nacht; es dränge sich kein schlotternder / Popanz / Zwischen meine matten Augen und überird`schen / Glanz. //

Nachtwacheninflation in der Dichtung. Hat sich darüber schon jemand Gedanken gemacht? Nein, diese Gedanken werden gehütet. Und obwohl diese auf See gedacht werden und aus der verkrümelten Sicht Dramors geträumt: Also vom salzigen Seewind gebrochen, keinem guten oder schlechten – wie es das Wetter sowieso nicht ist, sondern die Kleidung.

Auch das Flanieren an den Regalen: Wo weitere Nachtwachen? Da war doch noch – und richtig: die schlaflosen Nächte Bonaventuras. Dort auch kein Geräusch im Haus. Kein Licht im Treppenhaus, das eine Ankunft verkündet. Kein herzliches Willkommen.

Es ist sicher nicht das schlechte Gewissen, keine Hilfe angeboten zu haben, oder mich überhaupt nicht geregt zu haben. Keine Aufregung also und doch gerade so viel, nicht den Schlaf zu finden. Auch der etwas irre Blick, sage ich mir erst lachend, dann gebe ich zu: Spiegel lügen nicht. Badezimmerspiegel sind die ehrlichsten. Dann in oder auf die ERSTE NACHTWACHE. In der eine Nachtstunde schlug. Wurde jemand getroffen? Verletzt? Und jemand geht hinaus mit Pike und Horn. Und Märchen und Prinzen und Pest oder Sündflut. Und auch dort: ein Lämpchen im Dachkämmerchen.

Zigarettenzeit. Dort unter dem Dach ist immer noch ein Ort ohne Hatz. Ein Ort bedächtiger Inhalation. Erst der Aufstieg: es ist immer noch niemand zuhause. Die dreizehnte, das ist etwas überdurchschnittlich, wie die Dichte der Zeilen, die dort gelesen werden. Die ich plötzlich laut lesen muss, weil sie geschwiegen ihre Wirkung versagen: Halt! Dort wacht ein Kranker – auch in Träumen, wie der Poet in wahren Fieberträumen. Auf Seite Sieben. Und diese Aussage wird noch viel wahrer, weil sie laut gelesen wird. Vielleicht sollte mehr laut gelesen werden. Vielleicht würden die Dinge wahrer werden. Würde dann auch mehr geschwiegen werden.

Die Form der Nachtwache, der einen und der anderen und dieser, ist interessant, glaube ich, während ich wieder hinuntersteige und laut lese, nicht von dem Text ablasse, es ist ja ohnehin niemand wach. Auch Sätze, die nirgendwo stehen. Die noch nicht geschrieben wurden. Warum auch nicht? Auch das ist ein Thema: Eine Meditation über literarische Nachtwachen. Ich flüstere nur, man könnte mich belauschen. Man ist nicht sicher, von wem diese Einfälle entwendet werden und wo sie wieder auftauchen. Also leise, auf Zehenspitzen, das Buch wieder zurück ins Regal, nach kurzer Unterstreichung bestimmter Passagen und eine Notiz.

Weiter das Regal Richtung Südwest, ein paar Meter weiter: Da ist ja noch ein Schuhkarton, eine Bilderkiste. Sollte die nicht im Keller sein? Rom 88. Die Eddingbeschriftung. Ein Schulabschlussjahr. Die schlimme Klassenreise. Das Durchgezeche. Trinkspiele und seltsame Frisuren und ein besonders verhasstes Bild: Einer der ausschaut wie ich vor beinahe zwanzig Jahren. In Unterhosen, bewusstlos neben einer Magnumflasche Frascatiwein.

Unglaublich wieviel auf so ein Bild passt. Ein Parkstück. Im Hintergrund: das Colosseum. Feixende Mitschüler rahmen das Sujet. Sie heissen Roland, Markus, Stefan oder wie man in dem Alter zu dieser Zeit eben heisst. Und Die Silvi, Die Peti, Die Steffi – wie man in dem Alter eben genannt wird. Zwei Carabinieri nahen, wollen intervenieren. Keine Ahnung, was dann passierte. Die Bilderschachtel hat es in sich. Vor allem dieses eine. Auf der Rückseite: Alles Liebe, Ramona. Wer war das? Die Photographin. Ich überlege, ob dieses Bild nicht zerstört werden muss, unterlasse es dann aber. Schliesse diese Schachtel. Stöbere weiter.