Dranmor IV,1e

(Wilde Wehen)

Das kommt dabei heraus. Das kommt dabei heraus, wenn man sich nicht vorbereitet hat, wenn man denkt, einfach mal nur so eine zweite Zeugung anzustreben, zum Stift zu greifen und ins Blinde zu faseln. Das dann, wenn man es noch einmal genau besieht, keine eigentliche Produktion ist, viel mehr eine Menschenfresserei aus sich selbst. Debe mara pa! Und das dann: Die Ausscheidung. Ein dürres Häufchen Zeichen, das zu keiner Ordnung gehört. Ein pilziges Gewimmer, das Trauer bereitet. Ein Nicht-Text. Ein Zuviel der Aufregung. Eine Nichterwähnenswürdigkeit. Eine Missgeburt – nicht überlebensfähig. Wahrscheinlich. Vielleicht.

Aber was nutzt ein Vielleicht, wenn man es nur vielleicht sagen kann? Wenn es nur vielleicht so ist, nicht so erkennbar, wenn es ganz anders wäre, wenn man es noch einmal genau besehen müsste. Etwas ganz einfaches, das man sich viel schwieriger ausgedacht hatte, richtig ausgeheckt hatte. Gemalt hatte, gepresst hatte, gedrückt, in eine Badewanne (der Spiegel sollte auch mal wieder …), ins Blaue, ins Ungefähre hinein. Etwas, das man nach zwei Flaschen Wein gut und konkret gedacht hatte, und jetzt, genauer betrachtet, bei Licht sozusagen, jetzt wird festgestellt, es ist vielleicht etwas ganz anderes, und damit nichts wert!

Man möchte es ja nicht mehr anschauen. Diese Sauerei. Dieses Werkchen. Dieses Textchen, in dem er noch nicht einmal vorkam. Mit ihm gar nichts zu tun hat. Nicht einmal im entferntesten. Vielleicht das Debe mara pa: ja, vielleicht war er ein Menschenfresser, oder Opfer eines Menschenfressers, oder Vielfrass, oder einfach nur ein Spatienfresser und schlechter Verdauer. Schlecht konstruiert! Vergessen wir das! Unbrauchbar.

Man möchte es ja nicht mehr anschauen. Ich möchte mich mit diesem Kopf gar nicht mehr an die Entzifferung dieser traurigen Zeichenfolge machen. Es muss, es sollte schon anders sein. Es sollte schon etwas geordneter zugehen. Es hilft ja nichts, geradezu ins Blaue, ins Wilde zu fabulieren. Irgendeinen Phantomschmerz, irgendeinen Daumenschmerz an einer anderen Stelle, in einen fruchtbaren Bauch hinein, über ein Blatt Papier auszuleben, auf ein Blatt Papier zu kompensieren, irgendeinem vermeintlichen Druck nach zwei Flaschen Wein und dem ganzen Korn nachzugeben und es irgendwo hinzurotzen und zuzusehen wie es wird, und mehr. Es hilft nicht! Was hilft? Wer hilft? Wer kann da noch helfen? Andererseits: Es muss eben auch nicht alles mit Dranmor zu tun haben, oder?

Ich bin nun wir, das hört sich besser an. Wir rekonstruieren: Wir setzen uns eine lustige, weisse Mütze auf, und fangen noch einmal von vorne an:

Das Erdbeben morgens um Vier, die Krähe, ich mache mir Notizen, ich beobachte mich mit meinem dicken Bauch, und es zieht und es ist nichts und ich frage und man sagt, es sei nichts, noch nicht, und ich nehme ein Bad, und der Fleck über dem Fenster ist vielleicht ein paar Zentimeter grösser und ein bisschen dunkler geworden, aber es ist nichts. Und ich lege mich wieder ins Bett, und die Blase platzt. Einfach so, als ob nichts sei. Und man macht sich ans Werk. Die Entleerungen: Oben. Unten. Hinten. Vorne. Die Konsistenzen: Flüssig. Fest. Flüssig. Fest. Dann wieder Hunger. Dann das Loch und ein Riss. Dann wieder nichts.

Dann zur Nachuntersuchung. Wir nennen es Kritik. Fast eine Besichtigung. Drei Leute, eine Besuchergruppe Lernender, die daran rummachen darf und raunt. Raunen um die Therme herum: Raunen. War das etwa Ihr zweiter Versuch?

Was will er auch tun? Ist es überhaupt ein Er? Inaugenscheinnahme nenne man so etwas. Er weint, aber was will er auch machen: kein Grund zum Greinen; es ist die Beste aller Welten. Das wird er schon noch merken. Ich mache nichts als Notizen. Beobachte das Raunen. Beobachte mich und wie ich beobachtet werde. Das Niesen. Normal – muss ja alles raus. Das trinken ging gut? Ja? Es säuft. Er säuft schon. Wenn Sie ihn bitte hierhin legen könnten. Hände desinfizieren. Spender sind überall im Raum. Zur Repetition: Wie haben hier eine spontane Geburt. Der Beugetonus überwiegt. Der Hängetonus und die Kopfkontrolle. Achten Sie bitte auf vorhandene Symmetrien. Die Haut ist rosig. Das ist wichtig. Der Übergang von der Intrauterie zur Extrauterie? Die Umstellung – nicht so gelungen. Ausziehen: Die roten Füsse, die Extremitäten. Die Pickel sind harmlos. Sogenannte Melien – haben nichts zu bedeuten. Aber die Lanugobehaarung und die Furchen an der Fussunterseite. Auch wichtig: die Abgrenzbarkeit der Lamellen. Das Penisgefälte. Werfen Sie bitte auch immer hier ein Auge darauf … Wer weiss denn, ob? Der orangerote Fleck in der Windel? Uratkristalle und Ziegelmehl. Wir führen eine kleine Auskultation durch. Das Abhören. Sehr wichtig! Kann man auch an anderen Stellen? Den Puls? Am besten elektronisch. Und die Bedeutung der ersten Schreie: Wie hier bei dieser protrahierten Geburt. Es kam zu einer verzögerten Adaptation. Jetzt weint er. Wie macht man das? Ein bisschen Grappa, äh Traubenzucker, das ist schön süss, da geben die Babys dann wieder Ruhe. Und die Kreislaufsituation? Die Stigmata: Hier auch nicht die Ohrmuscheln und die Lidachse. Und erst die Fontanellen: Die Dreiecksfontanelle fühlt man kaum. Streichen Sie ruhig mit dem Finger über den Kopf. Nun, die grosse Fontanelle kann sich später noch verschliessen. Zählen Sie die Finger und Zehen. Denken Sie nur an Hexadaktylie. Und hier unten, wir drehen ihn mal, das Sakralgrübchen. Die Plexusparese und die Spontanbewegung. Alles nur wenig ausgebildet. Palpieren Sie die Mundhöhle. Ist es ein Gaumenspalter? Und die Augen? Hat jemand eine Lampe? Keine Lampe? Dann lassen wir das heute. Wieviel sieht man denn in diesem Alter? Nur hell-dunkel und nur direkt vor dem Gesicht. Schauen Sie sich nur den Nabel an: Drei Blutgefässe – hier nur zwei. Die Infusionen. Der Nabelvenenkatheder. Der Nabelarterienkatheder. Und die neurologischen Aspekte: Die Greifreflexe. Die Beinmuskelreflexe. Dürftig. Hier eine Asymmetrie – das kann was bedeuten. Überprüfen Sie auch den Muskeltonus. Das hier ist eher eine normale Schreckreaktion …

Meine Hand ist eingeschlafen. Aus ihr sind Dinge geflossen. Zeichen. Spuren. Wie kann man sich anmassen, sie so zu deuten. Und die Schelte: Man solle ja nicht nur zeugen. Man muss ja auch austragen können. Alles andere sei keine Geburt. Man sehe es ja sofort. Alles andere ist das Gegenteil einer Geburt. Ist eine Fleischfresserei, und was folgt? Ausscheidung. Vielleicht etwas Blut und Fleisch. Vielleicht atmet es sogar und streckt sich auch an manchen Stellen. Aber viel grösser wird es nicht. Ich lese den Text noch einmal langsam und laut:

Dranmor IV,1d

(Ist alles lächerlich)

Prasselnder Regen stört das Verschlafen. Ein Auge trifft eine digitale Anzeige, ein anderes die unsteten Tropfen an der Fensterscheibe. Zusammen verschwimmt ein Bild späten Erwachens. Die innere Uhr hatte die äussere im Traum erschlagen. Sie mit einem kurzen Handschlag überwunden. So oder so: ein Tag. Ich beschliesse zu Hause zu bleiben. Wieso es „blau machen“ heisst? Es müsste „grau machen“ heissen.

Wo ich denn bliebe, die knappe Frage am Telefon, noch bevor ich einen eingeübten, entschuldigenden Satz äussern kann. Es sei nichts besonderes, das übliche, der Magen, der Druck darauf, ich sei ganz bestimmt am Montag wieder dabei. Gute Besserung. Danke.

Jede Wunde ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt. Sie musste das eingesehen haben, musste das gefühlt haben und hält sich nun dementsprechend zurück. Sieht sich ignoriert und beschliesst: sich zu verändern, sich an ihre Umgebung anzupassen, zu sein wie die Nachbarflächen, unauffällig und funktional. Beschliesst, sich zu schliessen, zu schweigen, zu heilen.

Ich könnte mir einen neuerlichen Gang zum Arzt ersparen, denke ich jetzt, da der Daumen verstummt. Ein gutes Zeichen? Überhaupt: können Zeichen gut oder böse sein? Ich schätze: Zeichen sind erhaben über die moralische Integrität ihrer Benutzer. Ich spiele an der Nahtstelle. Am Faden, der alles zusammen hielt, der sich jetzt aber teilen und ausfasern will. Der sich noch mit letzter Kraft durch Haut und Fleisch spannt. Lösung. Da bewegt sich etwas. Erhält Spielraum. Da öffnet sich eine Schleife. Da wird ein Fadenende länger und länger. In einer Schachtel mit Fahrradflickzeug finde ich eine Nagelschere und stochere damit an dem Schauplatz herum. Rollbratentechnik: man muss nur das Bündel, diesen Mops vorsichtig in der Mitte aufschneiden, schon quillt pralles Fleisch, heiles, lebendiges Gewebe seiner Befreiung entgegen. Schon ziehe ich an einer nun überflüssigen Strippe: es geht ganz leicht; fast ohne Widerstand lassen sich lose Enden aus dem Daumen ziehen. Etwas nässt. Etwas perlt von der Haut ab. Etwas scheint doch noch nicht wohlauf, etwas ist gereizt, unter diesen Bedingungen. Ich entferne die letzte Fluse, lasse Wasser darüber fliessen, säubere, salbe ein und wickle ein Taschentuch über diesen neuen Zustand, möchte diesen Daumen vorerst nicht mehr sehen.

Jede Wunde ist lächerlich, wenn sie nicht mehr ist. Eine Heilung – immer ein Verschwundensein. Die Heilung – immer das Verschwundensein. Das endgültige Ende. Der Kaffee ist fertig. Ich schenke mir in die Tasse mit dem Rosenstrauch ein. Diese Rosen ohne Dornen. Die Tasse mit den schrecklichen Verzierungen, Erbstück von der Grossmutter, blau und rot, oben und unten, mit den Bändern, den gelben Augen, die so gerne Knospen wären. Balanciere die volle Tasse die Stufen hinauf unters Dach, stelle sie auf dem Rollwagen ab – neben dem Aschenbecher. Dort auch die Zigaretten. Das Buch liegt immer noch da. Immer noch Übeltäterbuch mit den vielfarbigen Flecken. Dieses Daumenbuch. Tut unschuldig: der Attentäter, eindringlicher Frager. Der Antwortlose, um keine Zeile Verlegene. Mit triefendem Pathos auf jeder Seite. Fragt mich: War ich, Dranmor, ein im Sterben bewusster? Ein Verschwindender? Ein im Verschwinden Heil Suchender? Ich blättere, so gut es mit einer Hand geht, lese diagonal, finde

An Pio nono // Vergänglich ist die Menschheit und, dem Staube / Mühsam entwachsen, unrettbar verfallen / Dem grauen Chaos. Keinen von uns allen / Befreit vom Erdenlos sein Himmelsglaube. // Arm ist die Menschheit; jeder lebt vom Raube / und von Geschenken aus des Todes Krallen / …. Auch hier: ich lese Vergänglichkeitslust. Dranmors omnipräsenten Idealismus des Verschwindens. Muss ich mehr wissen? Ich schlage in einem Lexikon nach: Pius IX … Graf Giovanni Maria Mastai-Ferretti wurde 1840 Kardinal und 1846 Papst … längste Amtszeit eines Papstes in der Geschichte der katholischen Kirche … zunächst hohes Ansehen, die Einschätzung, er sei ein “liberaler” Papst, erwies sich aber bald als falsch … Unfehlbarkeitsdogma … Als “Rückschritt für die Ökumene” betrachten die evangelischen und orthodoxen Kirchen, als Affront verstehen Juden die Kanonisierung von Pius … gegen diese Seligsprechung: sie fördere “ein Zerrbild von Heiligkeit” und sei Aufgrund der “erheblichen menschlichen Schwächen” von Pius nicht vertretbar.

Umstrittensein. Ein verschwundener Papst, doch kanonisiert und damit zur weiteren Präsenz verurteilt. Ein zu heisses Eisen: Sicher war Dranmor sehr gläubig, das strömt aus jeder Zeile. Und doch Kirchenkritiker. Dogmenkritiker. Funktionskritiker eines Toten unter Toten … Davon sind die Finger zu lassen. Dieser Ansatz ist eine Sackgasse. Für mich.

Wie starb eigentlich Dranmor?  Ich schlurfe wieder die Treppe hinunter, ins Wohnzimmer, zu dem Regal mit den Schuhkartons. Darin: unsortierte Kopien von Fundstücken, von denen ich mich nicht trennen mag. Der Karton „D“ ist leicht zu finden. Steht ganz vorne. Stöbern. Es gab doch noch diesen langen Aufsatz. Ich hatte doch etwas unterstrichen. Da: Eine literarische Studie Ferdinand Vetters über Dranmor. 1897. Fast zehn Jahre nach Dranmors Tod erschienen. Unterstreichungen, Leuchtstiftmarkierungen, Fragezeichen. Ein Kreuz: 17. März 1888. Vetter kann nicht mehr schweigen. Vetter gibt seinen Zweifeln Ausdruck, bevor er selbst verschwindet. So traurig verlebte Dranmor den letzten Winter in seiner Heimat … um im rauhen Norden im Schneegestöber um ein Grab zu bitten … der Arzt bezeichnete einen Herzschlag als Todesursache. Was diesem Schlag vorangegangen, darüber hörte man erst viel später allerlei Unbestimmtes; man sprach in Bern von einem Hieb mit der Reitpeitsche … hässliche Szenen sind dem Zusammenbruch des unglücklichen Greises jedenfalls vorausgegangen … Der Zustand in dem wir Dranmor auf dem Todbett sahen, lässt uns immerhin glauben, dass ihm das Gefühl, direkt einer Misshandlung erlegen zu sein, im Augenblick der Todes erspart geblieben sei …

Eine ungefähre Witterung. Eine Monstrosität. Was war da passiert? Fast liest es sich wie ein Kriminalfall. Ein ungeschriebener historischer Krimi. Aber altes Papier – man müsste versuchen, mehr darüber zu finden, eine Geschichte daraus machen, dieses Verschwinden entdecken. Einen Essay, eine Story über das Sterbenwollen Dranmors und gleichzeitig über einen unaufgeklärten Todesfall schreiben. Eine Idee – immerhin. Eine Ungeheuerlichkeit: diese biographische Leiche.

Ich muss mit Roman darüber sprechen. Ihm so wenig wie möglich darüber andeuten. Nur verhindern, dass wir uns nicht mit dem gleichen Aspekt beschäftigten. Vielleicht ist auch das schon problematisch. Vielleicht setze ich ihn damit schon auf eine Spur an. Vielleicht aber auch nicht. Ob er schon wieder in Bern ist? Ich setze mich an den Schreibtisch, starte den Computer.

Dranmor IV,1c

(Die Nähte)

Wann ist das letzte Mal so etwas Unerhörtes geschehen? Entzug eines Weisheitszahnes. Extraktion eines Molars. Lokalanästhesie und das Rucken im Kiefer: war mehr ein Hören als Spüren. Plötzliche Offenheit, ein kleiner Schwall Blut, die gelähmte Zunge ahnte nur. Das heilt nicht von alleine. Da müssen wir etwas nachhelfen. Auch das Eindringen der dünnen Nadel war nur ein Geräusch, kein Gefühl. Das Geräusch wurde dann Gefühl, erzeugte jenes Gefühl einer Verklammerung und allmählichen Schliessung des Offenen.

Ob ich denn keine starken Schmerzen gehabt hätte? Das sei ja schwer entzündet, man müsse es aufschneiden und Flüssigkeiten absaugen. So viel Flüssigkeit, so viel Menge in diesem kleinen blauen Daumen. So eine Gedunsenheit. Eine kleine, böse Infektion, aber ich sei ja gerade noch rechtzeitig gekommen. Ein Stich, dann nichts mehr, was auf Hand hindeutet, dort, aber Hand an anderer Stelle, am Magen, im unteren Bauchbereich ein Knurren, aber zu vernachlässigen.

Ich zwinge mich dazu, wegzuschauen. Eine Assistentin lächelt mich an, während sie meinen Arm fixiert. Der Arzt ist konzentriert, gut so, schwitzt ein wenig, auch der Raum, ganz Äther, ist aufgeladen, überhitzt. Niemand öffnet ein Fenster. Spüren Sie noch etwas? Ich will mit Nein antworten, merke dann aber, dass sich etwas aufdrängt, in mich hineindringt. Ich schüttele meinen Kopf in unbestimmte Richtungen. Das Glatte und das Kalte, etwas Brutales ist nicht zu spüren, aber deutlich hörbar. Es ist den Gesichtsausdrücken des Arztes und seiner Assistentin abzusehen: ein leichter, abgeklärter Ekel, ein professionelles Erbarmen. Da ist doch etwas drin. Stochern. Wir müssen das herausholen. Stochern, Millimeterarbeit. Ein Spreissel? Ein Span? Schon fast Knochen. Haben Sie mit Holz gearbeitet? Ich antworte, dass es mir beim Umräumen unterm Dach passiert sei. Dass es alles Mögliche sein könne. Wir haben es! Es kann alles Mögliche sein. Immer noch das Unverständnis, wie ich es damit nur so lange ausgehalten habe.

Sie legen es auf etwas Mull in eine Schale. Der dunkle, abgebrochene Stift, daneben rotes, gelbes Sekret. Ein Miniaturbild. Leinwand, Farbe, Fremdkörper. Sehr modern: Buchbruch und Körperzutat ergeben ein schönes Gemälde. Wir schliessen jetzt. Ein. Zwei. Drei. Vier Stiche, die ich wiederum nicht spüren kann, die aber durch den langen Arm, über Schulter, Hals, Kiefer ins Ohr dringen, die auch sichtbar werden, in den Augen der Näher.

Das Ziehen: ruckartig, wie nasse Seile, Takelage, die sich nur schwer manövrieren lässt, im Sturm. Ich knirsche mit den Zähnen, bin ganz Mast, das Ziehen verstärkt sich. Der Sturm lässt etwas nach, bündelt sich, ein Paket wird geschnürt. Wieder Scheren, Säuberungen, Salbe. So, fertig. Ich verschreibe Ihnen noch eine Creme. Nehmen Sie sie … und der Verbandswechsel. Ein Vortrag: Es ist von Sterilität die Rede. Eine kleine Einführung, ein weiterer Assistent werde mich hierüber noch genauer aufklären. Und, man müsse es genauestens beobachten. Dann Fäden ziehen …. Aber erst die Beruhigung der Hand, des ganzen Armes.

Draussen scheint mir die kalte Sonne. Draussen schliesst die Sonne die offenen Stellen der Stadt. Salbt, deckt den grauen Schmutz der Strassen. Blendet. Ein blauer Himmel wurde genäht. Flugverkehr fand statt. Die Mobilität der Welt wurde also von niemanden eingeschränkt. Und: alles passt, wenn es passiert. Wer sagte das? Die Verklammerung unfühlbarer Teile ist kein Eklektizismus: es ist alles von einem Fleisch.

Dranmor IV,1b

(Man müsse)

Es täte ihm sehr leid. Dass es immer so weit kommen müsse. Es sei ja nichts Ungewöhnliches, habe er gelesen. Die Erwartungen. Das Unausgesprochene. Das Angestaute. Dann die plötzliche Lösung. Man müsse das nächste Mal eine andere Lösung finden. Vorher darüber sprechen, habe er gelesen; man müsse den Möglichkeiten von Eskalationen aktiv begegnen, einer Situation den Wind aus den Segeln nehmen. Man müsse Bedürfnisse artikulieren, ganz frei. Man müsse dem anderen Raum geben, ihn nicht zu manipulieren versuchen. Man müsse auch versuchen, nicht alles besprechen zu wollen, das könne man auch gar nicht. Besonders in Familien mit schwierigen Charakteren. Eine gehörige Portion bewusster Verdrängung gehöre auch dazu. So könne es gelingen. Wenn nur jeder seinen Teil dazu beitragen würde – sei dort gestanden. In vielen Artikeln: in der Hörzu, im Tagblatt, überall. Es sei absolut verständlich. Man müsse es das nächste Mal vielleicht so versuchen. Ja, das müsse man, antworte ich, dann lege ich bald den Hörer auf.

Den ganzen Tag war die Wohnung nicht zu heizen. War es so, als würde ins Nichts geheizt werden, ein ständiges Brennen, nun auch im Magen, zerlodert, gleichförmig, klamm.

Die andauernde Entzündung des Daumens, die offene Stelle, Fehlen der Haut – es ist nicht besser geworden.

Kruste, darunter einmal gelbe, dann wieder rote, gräuliche Flüssigkeit, sämig, ein Bakterienmeer, wahrscheinlich, es hört nicht auf. Es will sich nicht schliessen, verschliesst sich nur einer Heilung. Bewegungen machen Mühe, eine Abwinkelung ist ausgeschlossen.

Die Notizen, die entstehen, ich kann sie nicht mehr in meinen Laptop übertragen. Die Handschrift, Erstellung von Manuskripten ist möglich, viele, ein Berg Manuskripte, ein loser Blätterhaufen, erst die Maschine, eine Überführung ins Digitale würde Ordnung schaffen, eine eigene Ordnung nach eigenen Gesetzen.

Der Berg also auf dem Küchentisch – ein anderer im Wohnzimmer auf einem Stuhl. Notate. Kurzschlüsse. Exzerpte von Dranmorgedichten. Eigenes. Unverwertbares. Dazwischen eine Lage mit Namen, die ich meinem Vater gab. Gesetzestafeln, die damit erstellt wurden. Auch etwas Eiter, auf dem einen oder anderen Zettel, weil sich das Wundprodukt einschreiben will, weil eine Wunde sprechen kann.

Ich bin nicht unglücklich über den anhaltenden Schmerz, die steigende Intensität, ausgehend von dem Daumen, die sich nun langsam der ganzen Hand bemächtigt, auf den linken Unterarm zuzuwandern scheint. Der wandernde Schmerz, der sich ausbreitende als stabiler Bezugspunkt. Als Referenz. Tröstend. Etwas, worauf ich mich konzentrieren kann, immer wieder, wenn der Haufen, der Stapel Papier unter seiner Höhe zusammenbricht, der ganze Sinn aus der Nichtordnung fährt, dann meldet sich der Daumen. Eine faule Daumenordnung, die Aufmerksamkeit – sie wird abgezogen, wird gebündelt, konzentriert sich, macht mich begreifbar.

Die Kontrolle dann, bis an ein weiteres Aushalten nicht mehr zu denken ist, bis ich zur Arznei greife, um mich wieder zerstreuen zu können; bis die Langeweile des Schmerzes entsteht und wieder vergehen muss, eine andere Unterhaltung gewünscht ist. Das Medikament wirkt langsam. Dann aber, wenn schon gar nicht mehr an Wirkung geglaubt wird.

Dann wird auch wieder der Hunger wahrgenommen. Sie müssen mehr essen und Sie müssen sich dazu zwingen und Das vergrössert auch die Chancen Ihrer Genesung und Ich gebe Ihnen etwas hiervon, das wird Ihren Appetit anregen. Das eine mit dem anderen nehmen. Die Steuerbarkeit. Es so kontrollieren zu können, erleichtert mich.

Ich wähle eine Nummer, die ich auswendig kann. Eine Pizza Napoli, kleiner gemischter Salat, Flasche Montepulciano, Casa d`Italia dankt. Man könne es in fünfundzwanzig Minuten abholen.

Grauer Schwarzpulvertag. Ein beissender Geruch. Rotes zerfetztes Papier auf den Strassen, die kleinen schwarzen Löcher in den grauen Schneebergen der Ränder. Wäre nicht der Schmerz, wäre andere Langeweile. Müsste ich Roman anrufen oder schreiben, würde ich ihn nicht treffen, weil er keine Zeit hätte. Könnte ich mich aber mit dem Nichttreffen auseinandersetzen. Was passiert wäre. Und dem Hunger und der Langeweile. Es riecht nach Krieg. Nach einer jungen Schlacht, die noch nicht zuende ist. Ich halte mir ein Taschentuch vor die Nase. Beschleunige.

Roman nicht da. Nicht vor nächster Woche. Bis dahin: Der Daumen. Der Schmerz. Die Arznei. Der Hunger.

Raketen am gestrigen Himmel im heutigen Film, zerschossene Hüllen auf gedecktem Asphalt. Das Öde. Nichts Öderes als ein Bild eines Neujahrstages der kleinen Strasse. Man müsse das verbieten.

Morgen werde ich zum Arzt gehen. Spätestens übermorgen. Ich muss den Daumen in Ordnung bringen lassen. Er muss mich in Ordnung bringen.