Dranmor IV,1a

(Reisebildstudie)

Der Tag vor acht Tagen. Vier Fenster in Folge, nebeneinander, wie ein Ausschnitt eines Filmstreifens, ein Fetzen Zelluloid. Kino. Aber nicht die Bilder laufen. Es läuft, fährt hinter den Bildern, hinterher, in grosser Schnelligkeit, hinter jedem Bild derselbe Film. Eine Baumkette wird Strich, Bergkette Linie, ein See unruhige Fläche. Ich musste mich an den Rahmen halten und ein Bild fixieren. Buntes Strahlenbild – gegen Abend graue, dynamische Struktur. Eine Strassenlampe bei den Gleisen: Komma der Erzählung, Riss in der Landschaft flüchtender Geraden. Ein krummes Anliegen. Wieviel langsamer, wieviel kantiger die Wahrnehmungen in Postkutschen, auf Schiffen, die aus den Häfen ausliefen, oder zu Fuss die Wahrnehmungen waren? Die Bezeichneten: es war Natur – was sonst?; mussten ein anderes Geständnis, Zwangsprodukt, Gedicht, wenn es denn gemacht werden musste, ergeben. Ich kann einer anderen Zeit nicht ihre eigene Geschwindigkeit vorwerfen!

Dranmor musste, wenn er musste, über Bäume, Tiere, Schiffe, Gott schreiben, wie er es tat. Und über deren Anschauung auf Reisen. Auch in der Bahn. Hier. Und wenn es über die granitnen Brücken / Und durch die Tunnels donnert, und der Boden / Ringsum erzittert, sich in den Pagoden / Die Götzenbilder bis zur Erde bücken. Seine Zivilisationskritik. Auch eine Geschwindigkeitskritik. Das Reisen war ein langsameres Reisen und doch viel schneller, als jemals gereist wurde. Das Wissen um die Langsamkeit der Reise in der Gegenwart, seiner Gegenwart, trajektiv. Dass es schneller werden würde, war gewusst, auch das Wissen um ihre eigene Beschleunigung. Doch wer an einen Gott glaubte, wie er, sich in einer pantheistischen Diesseitsreligion aufhielt, wie es sein Biograph Otto von Greyerz bezeichnete, sucht Gott als unendliche Linie zu begreifen, als Vektor. Der Blick darauf konnte entschleunigt werden, gedrosselt und ein Baum wurde wieder scharf, erkennbar, der See, ein Gebirge. Das Gott-in-Allem – war die Verlangsamung nur gross genug, bis zum Stillstand: Ist alles Gott.

Zu viel Wasser. Zwischen Zürich und Schaffhausen hatte ich schon einen ganzen Liter getrunken. Ein Grenzübertritt. Ich beobachtete schon seit längerem eine Veränderung meines Harnstoffwechsels. Schnellere Umwandlung. Wässriger. Grösserer Anteil an Spurenelementen hatte man mir angekündigt, das sei in diesem Zustand nicht ungewöhnlich. Überhaupt: rapiderer Stoffwechsel. Die Blase immer zum Bersten voll, wie bei einer Hochschwangeren. Die Druckverlagerung – dort aber mechanisch erklärbar. Bei Horb musste ich plötzlich aufstehen, sprungartig den Platz verlassen. Das fast leere Abteil zu dieser Zeit. Mein Wanken, der unsichere Gang durch den Wagen, bis zur Toilette zwischen den Waggons. Scharnierstelle.

Rudernde Arme und dann Gestank in der Toilette. Ich schloss ab. In der Toilettenschüssel selbst: Kotstreifen und an der Oberfläche schwimmendes Papier. Ich musste die Luft anhalten und im Stehen pinkeln. Das Fenster im Innern viel kleiner als die des Passagierraums. Kein Durchblick möglich, getrübtes, undurchsichtiges Glas. Eine späte Fliege krabbelte eine Diagonale, setzte ab und starb im Flug. Ich war von ihr gebannt und habe die Schüssel nicht getroffen. Musste die Schuhe mit rauen Papiertüchern säubern. Kein Wasservorrat mehr und keine Spülung, kein Händewaschen, also. Niedergang der Bahn, der regionalen Verbindungen. Bevor ich das Klo verrichteter Dinge verliess, kontrollierte ich den Ausgang, den Durchgang, ob mich auch niemand sehen konnte. Setzte mich unbeteiligt wieder an meinen Platz.

Bin ich also selbst das Opfer der Wahrnehmung? Ein Opfer der Abbildung? Des von Anderen Abgebildeten, Nachgebildeten? Bin ich Teil einer Opfertheorie: Das Vorbeigleitende hinter den Fenstern – ein flüchtiger Akt. Fast Akte der Auflösung. In mir. Eine Loslösung vom Augenblick. Festhalten!

Welcher Geist wachte über dieses flüchtige Archiv der Wahrnehmung? Geist des Staubes? Der feinen Körnung. Es gab nie ein Bilderverbot, denn alles war Bild – sonst wäre nichts. Das Wahrnehmungsbild, das Fenster, eine überholte Abbildung eines Bilds, Rest eines Schnappschusses. Geist. Spreche ich darüber, ist es schon Ausbeutung dieses Archivs, ist es gleichzeitige Sendung. Transmission der Spuren.

Mit ihm wollte ich darüber sprechen, schlechte Idee. Auf seine Frage, was ich denn machte, am Tag der Geburt seines Herrn, seines wiederholten Gedenkens, Gedankentag, Wunder des Gedankenjahrs, wer ich denn überhaupt sei, nach zwei Flaschen schweren Weins, mein Versuch eines Verweises darauf; er hatte es nicht verstanden, nicht nachvollziehen können. Väter können nicht verstehen. In ihren Weihnachtsfeierspeichern herrscht Ordnung – ich wüsste es selbst nicht, beantwortete ich mich, er solle doch gelegentlich bei mir vorbeischauen, nein, nicht zuhause, dort, wo ich nun lebte, wo ich gerade herkäme, sondern dorthin, wo ich mich oft aufhielt. Und das war überall. Ich schrieb ihm die Internetadresse meiner Homepage auf einen Zettel, er faltete ihn, es interessierte ihn nicht besonders. Exhibitionismus nannte er es. Sein Verweis auf einen Artikel einer, wie er dachte, schlauen Zeitung. Echtzeitmagazinierung falsch verstandener Subjektivität, wiederholte er eine seiner Meinung nach besonders gelungene Analyse – er konnte diese Wörter kaum mehr aussprechen, also wechselte ich das Thema, vielleicht hatte er ja doch einmal Zeit. Das Wetter.

Das Ende des Jahres. Jahreswechsel als Wortwechsel. Update. Verhinderung eines Bedeutungsaustausches. Was hatte er erzählt? Es konnte nicht gemerkt werden. Nichts. Der Stand des Immergleichen. Er bei mir, wie ich bei ihm. Es ginge ihm zur Zeit nicht so gut. Entschuldigung? Das Herz. Die Beine. Mental aber topfit, wie er es nannte. Das sei schlimm. Ich hatte ihm eine Passage aus Dranmors Reisestudie vorgelesen, und etwas, das ich dazu notiert hatte. Kein Interesse. Auch, dass ich jemanden wiedergetroffen hatte, ob er sich an Roman erinnern konnte, er wäre einmal dabei gewesen. Kein Interesse. Dass ich sonst eigentlich niemanden kannte, dass ich arbeiten würde und ansonsten mir die Zeit frei hielt. Sie aushielt. Das Wetter. Das Herz. Die Beine. Das Ich.

Der unweigerliche, der fast schon rituelle Streit am zweiten Feiertag. Nach einer unendlich lang scheinenden Zurückhaltung. Alles ganz einfach. Die üblichen Vorhaltungen. Grob, überspitzt, undifferenziert. Von meiner Seite, von seiner Seite. Die ganz alten Geschichten, die schon keine Ereignisse mehr waren, die Bilder waren. Von Bildern. Aufblitzende Archetypen. Erinnerungsfetzen. Lose Fäden, die nicht mehr verknüpft werden konnten. Die Unmengen Rotwein, die es brauchte soweit zu kommen, am Ende der Schnaps. Kurz bevor es zu Handgreiflichkeiten kommen konnte, reiste ich vorzeitig ab.

Schlechte Bedingungen – hier wie dort. Letzte Tage des Jahres die Zeit aushaltend. Kein Mensch in Bern. Kein Sylvester – nur dessen Bild im Fernsehen. Raketen, Kracher noch heute morgen, das sonst stille Neue Jahr.

Dranmor III,3d

(Nägel, Fleisch, Archivzeit)

Neben Fett- und Kaffeeflecken auf einigen Seiten von Dranmors gesammelten Dichtungen beobachte ich eine neuerliche Verwandlung. Zwei dunkelrote Punkte, Kleckse haben sich an einer Ecke, unten, neben ornamentalen Weidensträussen in das Leinen des Buchdeckels eingelassen. Fransen bei weiterer Berührung aus. Ein Riss ging durch die Haut, teilte Fleisch, bei wiederholtem Streichen über den Buchrücken. War das Buch genagelt? Ein kleiner, rostiger Stift jedenfalls entschliesst sich, seinen Band zu verlassen, um sich mir ins Fleisch zu bohren. Tropfen. Ein, zwei, ohne dass ich es bemerke, also, auf dem Deckel. Der Weidenstrauss erblüht. Klatschmohnartig, an einer Stelle. Blutzoll. Wird ein Naturgedicht.

Ich hätte Roman nicht um Rat fragen sollen, ihm nicht den Magaziner, ein Exzerpt, die Exposition der kleinen Novelle, wie ich es nannte, zeigen, schon gar nicht schicken, überlassen sollen.

Ich hätte es in seinem Ordner belassen sollen, seinem Archiv, dort hätte es sich wohlgefühlt, wäre vergessen worden, hätte weitergearbeitet, im Verborgenen, im Stillen, in Ärmelschonern, unverletzbar, geschützt, in den Kellern oder zuhause in der kalten Wohnung. Oder hätte es anzünden, verbrennen sollen; es hätte ein paar Sekunden Wärme geschenkt, weitergegeben, einen Scheit entzündet, in der Folge warme Minuten gestiftet, unter dem Dach. Womöglich den Dachstuhl angesteckt. Ewige Wärme.

Ist es denn wirklich nicht einleuchtend? Dranmor als Objekt des Magaziners, ein Freund Pilzens. Oder Pilz Objekt Dranmors. Oder anders herum? Was spielte Geschichte als Chronologie denn für eine Rolle? Das könne man nicht machen, war Romans Replik. Das sei keine Literatur. Das sei zutiefst unglaubwürdig. Ich notiere: Was aber mit Ransmayrs letzter Welt? Zeitlosigkeit. Das Ewige der Fiktionen. Er wird schreiben, ich sei nicht Ransmayr, und damit hat er Recht. Ich streiche die Notiz.

Aber die Idee um die Fiktionalität Dranmors. Überhaupt, um die Fiktionalität irgendeiner Autorschaftsfigur, weitgehend, die Fiktionalität jedes Archivs, jedes Magaziners darin. Er hat es als akademischen Unsinn abgetan. So etwas möchte doch niemand lesen. Wenn ich an so einem Wettbewerb teilnehmen möchte, solle ich mich doch ein bisschen an Leserbedürfnissen, nicht zuletzt an den Bedürfnissen der Jury orientieren. Sonst könne ich gleich für mein Archiv schreiben. Privatfiktion werden.

Auch die letzte Figur, die Idee einer Grabschändung, sei ihm nicht willkommen. Ich müsse das letztendlich selbst wissen, aber Magazine seien keine Gräber, morbide Vorstellung, seien durchaus lebendige Orte, wachsen, werden, verändern sich. Dort grabe niemand Leichen aus, dort öffnete man höchstens einen lebendigen Körper, Korpus, stosse durch gut durchblutetes Fleisch, auf intakte Venen, man müsse aufpassen, dass man sich nicht besudele. Es ist nichts Schlechtes dabei, es so zu sehen. Nur Wonnen werden wieder aufgefrischt / Dort in dem ungeheuren Sarkophage. Versteht er nicht? Er will nicht verstehen. Er wird es auch nicht verstehen. Ich bezweifle, dass er sich schon mit dem 19. Requiemfragment auseinandergesetzt hat. Nun. Er würde gerne weiterhin ein Lektorat der Texte von mir übernehmen, schreibt er, dasselbe hoffe er auch im Gegenzug von mir, aber bitte, es solle sich schon um eine Idee handeln, und wenn es gehe, bitte um nichts Biographisches, das sei schon seine Spielwiese.

Abschliessend. Ich solle mich doch nicht so anstellen. Schliesslich habe man noch Monate Zeit. Ich solle es mir doch auch einmal gemütlich machen, ich wirke etwas verspannt, in jüngster Zeit. Die Feiertage. Ob ich denn nicht meine Familie besuche? Das würde mir gut tun. Das würde mich etwas ablenken. Auf andere Gedanken bringen.

Wird sich der Daumen entzünden? Die Schwellung ist bestimmt eine normale, eine gesunde Körperreaktion. Ich muss sie nur beobachten. Gründlich beobachten. Die Blutung ist gestillt, die Stelle verbunden. Es ist keine weitere Verunreinigung zu erwarten. Der Urlaub eingereicht, der Koffer gepackt, konventionelle Weihnachtskarten verschickt. Es bleibt keine Frage offen, in diesem Jahr. Ich muss mich beeilen, die Bahn fährt in einer Stunde. Pünktlichkeit ist bei Familienfesten das A und O.

Dranmor III,3b

(Pilzgeschichten)

Ein Blättchen. Ein Album. Zeitungspapier. Ein Blick auf einen Veilchenmeister im Feuilleton. Das Retabel des Heiligen Antonius Abbas – das Mittelbild. Aura um den Heiligen. Das doppelgestrebte Kreuz und ein Buch auf dem Schoss. Allegorie für Gedächtnis und Glaube. Eine Magazingabe eines Archivs, das noch vor Schrift strotzte, auch wenn es gemalt, mit Farbe gezeugt wurde. Kräftige Farbe: Ein Schwein zur Fusslinken des Heiligen, in Bewegung, eine Glocke am Ohr, mit einer Knoblauchzehe spielend. Knollenwesen. Ich stelle mir ein Läuten als Grundierung vor. Im Hintergrund in der Ferne: Festungen, Ortschaften, romantische Natur. Ein kleiner, lockiger, kniender Knirps zu seiner Rechten. Seine Feuerhand will das Buch entzünden, vielleicht. Oder gar den ganzen Heiligen. Könnte ich es doch beschreiben. Es will nicht. Aber ich. Ein feuerrot knorpeliger Kerl, daneben, mit Hörnern an Kopf und After. Schlangen aus Ohren und After – blickt nach vorne und nach hinten und hat, obwohl er lächelt, nichts Gutes im Sinn.

Die Schlangenzunge als Darmfortsatz scheint einen unbescholtenen Fischer in der Ferne zu lecken. Glocken. Symbole und Allegorien überall.

Ich versuche es zu beschreiben, mir eine Beschreibung auszumalen. Sehe aber Glocken, wo Pflanzen sind, sehe gaffende Beobachter in Baumreihen, sehe einen Vorhang, wo ein langer, grauer Bart ist, vermute einen Narren, wo der Teufel sitzt. Ein Veilchen unter einem anderen Schwein ist kein Veilchen, nicht einmal eine Blume, sondern ein Pilz.

Seit langem das Gefühl, die Wahrnehmung der Dinge stimme nicht. Das Aufnehmen als Mykoseprozess. Das Erinnern wird zum Pilzverfahren. Lieblose Legendenbildung aus entschraubten, zerfledderten Realien einer verlassenen Natur. Gottverlassen.

Blumengeranke um das Bild. Ein weiteres Objekt einer Zurschaustellung darunter. Rapunzel aus dem Kiefernwald. Stahl. Gips mit blonden Haaren und einer Strickleiter. Die Leiter führt direkt in ein imaginiertes Himmelsareal, so der Begleittext. Ich kann keine Leiter erkennen – die Unschärfe und Körnung der Abbildung lässt es nicht zu – kein langes, blondes Haar über ein Brautkleid geworfen. Ich glaube einen geölten Trichter im Kopfstand zu erkennen, eine Wohnzimmerlampe, ein Megaphon, das auf Schreie wartet – im Hintergrund, eine Zäsur, Kante, Farbkontrast – nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Ist es eigene Schuld, wenn zu Dranmor nichts einfällt? Dann wiederum ist es eigene Schuld, wenn nicht das an- und aufgenommen wird, was ich sehe und es so festhalte, wie ich es sagen würde, wie ich es nehme: als Pilzfigur. Etwas Kaffee schwappt über den Faszikel, Buchstaben zerfliessen, Unlesbarkeit – kurze Zeit – dann nachdrückliches Wiedererscheinen. Im Bund, in seinem Falz wird er abgeleitet, abgeführt, aufgesogen. War das Waldleben? Geheimes Leben der Pflanzen, Tannhäuser, Frauen der Antike, Erinyen, tausend blühende Blumen weinen braune Tränen. Berenice. Alles Pilze. Verwandelte Formen des Einen. Ein Schlagwort.

Ich nähere mich vorsichtig meinem Regal, hätte es umrundet, stünde es im Zentrum des Raumes. Ein Ordner ist etwas, das Ordnung garantieren sollte, dabei ist es nur Gehäuse, Haut weiterer Unordnung. Und so weiter. In diesem Ordner vielleicht.

Die alte Magazingeschichte ist eine Pilzgeschichte. Ob ich sie noch finde? Vielleicht liesse sie sich umschreiben. Nicht paraphrasieren. Beispielsweise einen Namen austauschen. Ein verstellter Satz ergibt oft einen ganz anderen Roman – wie die Negierung einer Aussage ein Leben auslöschen kann oder ein verstelltes Buch in einem Magazin die Geschichte neu schreiben will. Ein altes Verfahren, noch älter als das Magazin. Wirkungsvoll wie der Kaffee auf einer Zeitung, der Buchstaben verblassen lässt, dann neu befüllt.

Ich erhebe mich, meine Knie knacksen dabei geräuschvoll, und ziehe meine Hose aus, werfe sie durch die halbgeöffnete Badezimmertür – warum brennt da noch Licht? – suche nach einer anderen. Es ist keine zu finden, also gehe ich halbnackt zurück in das Zimmer mit dem Sofa und blättere in dem Hefter mit der Aufschrift: Albumblätter, Miszellen IV.

Dranmor III,3a

(Permafrost)

Kälte bleibt. Ein kleiner Schmerz geht voraus und öffnet mit leichter Hand eine Tür in die Nacht. Verfängt sich in einem asymmetrischen Netz alten Putzes der Wand. Zuhause kann der Kühlschrank ein Magazin sein. Der Leberkäse ein Buch, Textblock. Der Salat, der darüber und darunter angeordnet wurde, ein kalter Einband. Cover. Gefrierschutz mit Gabelzeichnungen. Nun in optimalen 7 Grad und ein paar Minuten. Das Wenige, das davon gelesen wurde, wurde wieder erbrochen. Unverdauliche Kost, heute Abend, auch aufgewärmt, auch zu gerechten Portionen angerichtet, sperrt sie sich vor der Einnahme. In den Regalen lag, liegt immer noch anderes, schweigt nun daneben in bester Gesellschaft: alte Vollkornbrotscheiben wie Papyri, Käsereste, gesammelte Überlieferungen dreier Wochen in einem Kodex. Ein Werk aus blauem Plastik. Ein reifes Werk. Stattdessen die Suche nach Schlaf. Ich stelle das Badewasser ab, sobald ich sehe, es ist genug. Die Kosten. Ich werde mir etwas überlegen müssen. Der Mangel einer ordentlichen Heizung, eines Heizungssystems, kann nicht immer mit Heissbädern ausgeglichen werden. Es würde sich nicht rechnen, auf Dauer. Und erst unterm Dach, ein Raum, der nun unbewohnbar ist: eigentliche Frostparzelle. Der einzige Raum, in dem gearbeitet werden konnte, muss ebenfalls kompensiert werden, nach unten, hierher – vielleicht ins Wohnzimmer verlegt werden. Vielleicht auch in die Küche. Ich werde es probieren müssen.

Erstaunlich mein Auge, der Blick für punktgenaue Wasserstände, der Wannenfüllmenge, die nun, nach Aufnahme meines Körpers, nach seiner vollständigen Deckung mit Wasser, ihren Pegel knapp unterhalb der Überlaufvorrichtung, des Auslaufs einrichtete.

Viel Bewegung darf allerdings nicht stattfinden. Unnötige Verluste vermeiden, auch die Flutung des Badezimmerbodens. Die Arbeit und die Gefahr eines Unfalls. Umständlich auch die Manöver der Hände, die das Buch halten und gleichzeitig vor Befeuchtung und Bespritzung bewahren müssen. Ausserdem das seltsame Gefühl der Kälte und Hitze zugleich – phänomenologisches Wirrwarr: der Körper bis auf die Hände und Arme in heissem Wasser – und die frierenden Hände, Arme und nun auch Stirn. Beheizter Torso: Was ist aussen, was innen? Eine Seite hat schon Wasser gezogen. Durstiges Papier!

1858. Eine Nachtwache // Durch die Wellen flog der Schoner, auf und nieder / ging der Kiel, / Frische Brise in den Segeln, vor den Augen unser Ziel / „Fort von den Kanonen, Jungens! – Sendet keinen Gruß an Land; / Schweigend refft die Segel, schweigend werft den Anker in den Sand!“ /

Wasserliteratur. Kielholen der Wörter. Nach der Tortur: blutige Risse an Leibern. Ohnmacht. Die salzige Schwemme verhindert ein Sich-Schliessen der Wunden, der zerschundenen Arme und Beine. Vor allem des geöffneten Bauches. Das alles in Friedenszeiten. Wie wird es sein im nächsten Krieg, den härteren Tagen? Die Kiele werden nicht mehr geholt werden. Es wird wieder mit Kanonen geschrieben. Ich möchte diese Antwort formulieren, habe aber vergessen, Block und Bleistift bereitzulegen.

Zeit vergeht im Wasser langsamer und ich überprüfe die Zehen eines Fusses, ob sich nicht schon Haut veränderte. Eine Frage der Zieldefinition, letztendlich, nach einer Entankerung: Doch Dranmor hat eindeutig den Fokus verloren. Himmelstöchter. Das ewige Sternthema als ewigen Schreibimpuls. Eine unbefriedigende Folie, denke ich, ein endloses Stück Stoff. Die Sterne, die man sehen will, aus irgendwelchen Gründen beschreiben will, man muss sie sich selbst erschaffen. Ein durch und durch religiöser Wahn. Der pantheistische Dranmor, so nannte ihn ein Kommentator, zwei oder sogar mehr. Sie haben alle von einander abgeschrieben. Ich werde diesen Ansatz einmal mehr verfolgen müssen. Und seine Verdichtung: ein Gottesdienst ohne Gott, sein Glauben ohne zu glauben. Aber immerhin Entstandenes, ein Wuchs, etwas Beobachtbares. Damit werde ich nicht dienen können, im Moment. Nicht Roman, als Beweis meiner Klarheit, nicht mir, als Beweis meiner selbst. Vielleicht hat das heutige Kalenderblatt doch Recht: Die Schreibblockade, von der es heute morgen sprach, als Gottes Methode dir zusagen, dass du kein Schriftsteller bist. Das wäre nur derjenige der beschreibt – seien es auch nur Sterne, die man nicht sah.

Und immer wieder diese. Sterne, teilt ihr mit dem Erdball gleiche Zukunft, / gleiches Sein, / Lebenswärme, Fortschritt, Wissen, Liebeslust und Todespein? / So, als Platzhalter allen Geschehens in einer langweiligen Konstruktion. Menschengedachtes Unendliches und das Schicksal – für diesen Spätling des Jahrhunderts.

Der Wasserhahn ist nicht dicht und erlaubt einem Rinnsal sein Sein, über Wasserleitungen, Rohre und Beckenränder zu fliessen und den Verlust des Übergeschwappten oder Abgelaufenen auszugleichen. Kleine Schauminseln bilden sich, sacken in sich zusammen, werden Oberfläche und vergehen. Hätte er die Welt auf den Kopf gestellt! Die Wasseroberfläche wäre Himmelszelt. Die Analogie beider Zeltstoffe! Ich kann die Hebungen und Senkungen meines Bauches und Unterleibs durch die sich klärende Flüssigkeit erkennen. Die unbemerkt abgesunkene, linke Hand ist, wie sich nun herausstellt, eine grossflächige Runzel. Ich lasse das Wasser ab.

Dranmor III,2a

(Puna)

Es sitzt sich so gut auf den Eisenstühlen vor dem Bundeshaus. Anfängliche Kälte weicht aus dem Körper, bildet einen Wall zwischen Dufflecoat und Strickjacke, Felle, Schichten, schützen vor noch kälterer Kälte des Aussen. Ein Herzschlag normalisiert sich. Rum ist ein Getränk dieser Jahreszeit und macht das sich an den Oberschenkeln einfrierende Stuhlgeflecht vergessen. Eine Schweissperle sucht sich ihren Weg von der Stirn zum Hals, um sich in einem Kragen zu verstecken, um dort vielleicht zu trocknen. Salzwerdung. Das Aussen.

Ein kitschiger Caspar-Wolf-Blick über das Aaretal führt hinauf zum Gurten, Hausberg der Stadt, lässt meine Augen bald kneifen, zusammen, schaue ich mit ihnen in die Ferne hinauf. Die Anordnung verschwimmt zu erhabenem Weiss mit dunkler Borte, Baumreihen, Himmelskanten, darüber grauer Nebel und nichts.

Dieser Mittwochabend ist ein Abend, der nach dem Mittagessen beginnt. Ein halber freier Tag macht einen Tag zum Tag und erinnert an Leben. Ein Wenig. Einkäufe. Papiertüten meine zwei Begleiterinnen zur Rechten und Linken, frösteln am Boden. Etwas dampft aus ihnen. Warmer Kartoffelsalat vielleicht, der sich gerade an die Temperatur anpasst. In der anderen der Leberkäse. Sie müssen wieder aufgewärmt werden. Später, sollte ich Hunger bekommen. Ich rekonstruiere ein unbefriedigendes Gespräch mit Roman in den Drei Eidgenossen. Er versteht nicht. Wenn ich ihm etwas nicht sagen will, und das mitteile, ist das nicht verhandelbar. Wie es mit dem Schreiben vorangehe. Wenn ich noch nicht einmal ein Thema nennen könne. Was es ihn angehe, wenn ich Mittags nun ein Bier anstelle eines Milchkaffees trinke. Nicht verhandelbar. Keine Antwort auf diese Frage – auch, wenn sie gar nicht gestellt wurde. Ich erzähle lieber von Menschenfressern in Brasilien. Dass es sie immer noch gäbe. Dass das Menschenfressen auch heute noch durchaus verbreitet sei, auch hier in Europa. Es sei gerade wieder im Kommen. En vogue.

Roman sah heute anders aus. Rosiger. Etwas hatte seine Gesichtsproportionen verändert. Die Haare. Sie waren dunkler als sonst. Hatte er etwa seine Haare getönt? Ich weiss noch, wie stolz er auf sein erstes graues Haar war. Schläfenhaar, das er stolz an einem Abendessen herauszupfte und herumreichte. Theatralisch angewidert und stolz. Vor acht Jahren? In seiner damaligen Lockenpracht fiel die angehende Melierung nicht weiter auf. Aber heute war das Haar dunkler. Frischer. Jünger. Nein, noch eine andere Sache: Er hatte sich seinen dünnen, flusigen Oberlippenbart abgenommen, sich von dem kleinen, stacheligen Flaum getrennt. Will er sich verjüngen? Vielleicht muss ich seine Bemerkungen zu meinem Äusseren neu verstehen. Ob meine Waschmaschine kaputt sei? Ob ich mir nun einen Bart wachsen liesse? Ob nicht Ob ich mich nicht gehen liesse? dahintersteckte. Ein Dreitagebart stünde mir gut. Es sei ja nun auch Winter, und … Er meint es nicht so.

Ich suche nach einem Papiertaschentuch in meiner Manteltasche, trockne die feuchten Hände, mit denen ich unvorsichtiger Weise die Stirn berührte, mir Schweiss ins Haar gestrichen hatte, um es zu formen. Unbewusst versucht hatte den halblangen Haaren Form zu geben, in Form zu bringen. Das Problem vom Kopf in die Hände gelagert.

Ich sollte sie bald waschen, sie beginnen langsam zu stinken. Hatte ich an das Shampoo gedacht? Vielleicht auch einfach nur abschneiden. Die radikale Lösung: noch heute den Schädel kahl rasieren mit einem Barttrimmer, wo war er noch, bestimmt im Keller, in der Elektroschrottkiste, wie finden?, die Jugendfrisur, es habe mir immer gestanden, dem nachhängen, eine Verjüngung, ebenfalls, würde Roman dann sagen, vielleicht doch nur waschen.

Vielleicht sollte ich mich vor dieser Entscheidung mit jemanden beraten. Vielleicht sollte ich mich generell mehr beraten lassen. Warum aber eine Veränderung im Angesicht der Veränderung, die logische Frage, darauf? Das Bleiben und So-Bleiben wäre als Thema auch zu vermeiden gewesen. Ob er es darauf bezogen hatte? Nur bleiben zu können, wenn man nicht so bleibt. Ich hatte vehement protestiert, von einem An-und-für-sich-Bleiben gesprochen. Plädiert, beinahe. Eisern verteidigt. So musste die Auseinandersetzung begonnen haben. So hat es sich entwickelt. So könne man nicht mehr leben, hatte er gesagt. So könne das Sosein sein, habe ich entgegnet, ich sei das beste Beispiel dafür. Roman: Dass ich kein Beispiel sei. Dass hier überhaupt nichts Spielerisches am Werk sei. Dass ich schlicht etwas beiläufig sei – im äussersten Falle. Unter uns, als Freunde. Zuviel. Zuviel. Ich hatte dann etwas gesagt, worauf er ging. Ein Michanstarren der Leute in der Bar. Was war es oder war ich zu laut? Oberlippenbärte sind heute etwas durch und durch Hässliches. Das sei objektiv. So etwas zu haben, passiere nicht im Zufall. Es sei eine gewollte Entstellung, wenn man damit nicht gerade eine ungewollte kaschieren wolle. Es brauche Mut so einen Bart zu tragen. Es brauche Bescheidenheit. Tiefste Bescheidenheit. Demut. Roman hatte ihn sich abgenommen und sich gleichzeitig aus einer umfassenden Bescheidenheit verabschiedet. Das sei ja nun auch eine Bescheidenheit. Aber anderer Art: Die Inkaufnahme eines Verlustes. Des Verlustes der Möglichkeit in einem Tal zwischen zwei Bergen zu hocken, also dort leben zu können. Man verpflichte sich gleichzeitig einen Gipfel zu definieren und ihn zu nehmen. Es sei doch Wahnsinn. Im übertragenen Sinne.

Hatten das alle gehört? Einige schauten betreten in ihre Gläser und Tassen. Schwamm drüber, würde er vielleicht sagen. Ich hoffe. Die drei Phasen der Bergkulisse verschwinden. Schwimmen ineinander. Das Weiss der verschneiten Matten wird dunkler, das Dunkel des Waldsaumes der Spitze heller. Der Nebel legt einen Schleier über die Kanten. Alles wird grau. Kartoffelsalat und Leberkäse: kalt und grau. Laternen blitzen auf und leuchten einen Bogen zur Strasse.