Dranmor III,1e

(Debe mara pa)

Wo anfangen und nicht über die Berge vor meinem Fenster schreiben? Über die Berge Österreichs? KuK-Berge als Alternative? Dramors Dichtungen zerfleddern leise auf dem Küchentisch. Es sind schon ein paar Flecken auf dem Cover zu sehen. Spuren der letzten Tage. Halbherzige Lektüreflecken. Undefinierbare Sossenreste sind einfach mit einem Fingernagel von einer Prägung zu kratzen. Die Texte geben nichts her. Ich könnte über Brasilien schreiben, dem Ort wo sie entstanden waren, nur in dieser Umgebung machten sie vielleicht Sinn, aber ich weiss nichts von Brasilien. Dem historischen Brasilien des 19. Jahrhunderts. Es interessiert mich auch nicht besonders. Nicht so sehr, dass ich mich ernsthaft damit auseinandersetzen wollte.

Roman hatte heute Morgen am Telefon über mein Vorhaben gelacht. Und woher solle er denn etwas über Brasilien wissen? Er würde es gerade mal noch auf einer Karte finden. Ob sie dort immer noch Menschen fräsen? Ich war verwundert, hakte nach, wie er denn darauf komme. Es sei ein Spass gewesen. Er wollte einen ethnologischen Klassiker zitieren. Hans Staden. Sechzehntes Jahrhundert, allerdings – das sei noch immer nicht meine gesuchte Zeit.

Ich habe darauf die „wahrhaftige Historie der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser-Leute“ Stadens nach einiger Mühe als Mikroficheausgabe in der Bibliothek gefunden und mir einige Passagen ausgedruckt. Das Frontispiz dieser alten Ausgabe mit dem bärtigen Gesicht Stadens: ich fühlte mich dort kurz an das Dranmor-Porträt erinnert. Nun liegen sie nebeneinander, schauen in gegensätzliche Richtungen. Frappierend ähnliche Haltungen und Blicke. Dranmor etwas feiner gezeichnet. Staden wesentlich unterhaltsamer.

Fünfundzwanzigstes Kapitel. Warum sie ihre Feinde essen.

Sie essen ihre Feinde nicht, weil sie Hunger haben, sondern aus Haß und großer Feindseligkeit, und wenn sie im Krieg miteinander kämpfen, so rufen sie sich haßerfüllt zu: „Debe mara pa, xe remiu ram begue“ – über dich komme alles Unglück, du bist mein Essen, meine Kost. Nde akanga juka aipota kuri ne – ich will dir heute deinen Kopfe einschlagen. Xe anama poepika re xe aju – um den Tod meiner Freunde an dir zu rächen bin ich hier. Nde roo, xe mokaen sera kuarasy ar eyma rire usw. – noch ehe heute die Sonne untergeht, werde ich dein Fleisch gebraten haben.“ Das alles tun sie aus großer Feindschaft.

Schlimme Dinge, die Staden dort erlebte und zu notieren wusste. Die Trinkgelage. Das Einkochen der Gefangenen. Die minutiöse Beschreibung der Rasur der Augenbrauen des Mahles, des herausquellenden Gehirns nach Knüppelung, der Häutung – der illustrative Holzschnitt der Indio-Frauen mit ihren Zeremonial-Keulen. Eine saftige, barocke Sprache. Es sind Bilder, die nur wenig durch die Übertragung einbüssten. Ich erschrecke über meine Begeisterung.

Ist dann die Haut abgemacht, so nimmt ihn ein Mann und schneidet ihm die Beine über dem Knie und die Arme am Leib ab, worauf die Frauen kommen, diese vier Teile nehmen und unter großem Freudengeschrei damit um die Hütte laufen. Daraufhin trennen sie den Rücken mit dem Hintern vom Vorderteil ab. Dieses teilen sie unter sich auf. Die Eingeweide aber behalten die Frauen, die sie kochen und aus der Brühe einen Brei, Mingáu genannt, herstellen. Den trinken sie und die Kinder. Sie essen die Eingeweide und auch das Fleisch vom Kopf; das Hirn, die Zunge und was sonst noch daran genießbar ist, bekommen die Kinder. Ist das alles geschehen, geht jeder wieder heim und nimmt seinen Anteil mit.

Ich kann mich kaum von diesem Text lösen. Das Fremde. Das Selbstverständliche. Das Verständliche vielleicht sogar. Das: die ewige Kette wahrer Vergeltung. Dranmor dagegen eine weinerliche Milchsuppe. Leicht verdauliche, reibungslose Naturlyrik. Ich tue ihm sicher Unrecht, aber, wenn ich ihn und seine Verse zum Gegenstand machen will, muss der Tod hinein.

Dranmor III,1c

(Über Berge schreiben)

Woran schreiben, wenn der starre Blick aus dem Fenster fällt? Die Fensterrahmen etwa, die blätternden Simse, die bei windiger Bise knarren und sich in hölzerne Instrumente verwandeln. Entlaubte Bäume geben die Sicht auf eine Bergkette frei: Über Berge schreiben, immer, auch wenn dabei über ganz anderes geschrieben wird. Woran ich schreibe ist fast vergessen. Wofür ich schreibe, weiss ich nicht. Dagegen nicht, wogegen ich schreibe. Ich schreibe gegen Berge. Gegen diese Berge. Generell.

Die ständigen Berge, die ich sehe, sind Prellwände und leiten um. Nicht trockene Hitze, wären sie sonst vereist? Sie verleiten Kälte aus allen Richtungen in diese Region. Auch aus der Heimat. Umgeleitete Heimatkälte. Heimat, die sich auflöst, um langsam nirgends zu sein; um überall sein zu können. Die Heimat ist auch im Flachland ein Berg. In der Ferne – verzweifelte Schreibübungen, um das Zittern der Hände in den Griff zu bekommen. Und: die Gleichgültigkeit des Themas. Dabei ist die Form das Thema. Eine förmliche Nichtvollendung des Schreibens, ein ewiges Baustellengelände jedes einzelnen Wortes. Dessen Summe: höchstens Fragment.

Passiert das Schreiben beispielsweise in einer Giesserei; ist das Schreiben giessen. Das Umfüllen, Verfüllen von Flüssigem, Flüssigkeiten, Molekularem in eine feste Form. Einen Berg zu beschreiben: das lässt ihn erröten. Das Hoffen auf Erkaltung, auf eine Formgebung nach Entfernung des Mantels. Die Nahtstellen und Ränder: an diesen muss gefeilt werden. Vielleicht wird es eine Büste. Ein Lächeln oder eine grimmige Fratze. Vielleicht auch Torso oder abstraktes Gebilde, das für das Weiche oder Harte stünde – oder für beides.

Die kleinen Formen, Förmchen, mit denen ich im Sandkasten spielte, als ich Kind war. Ich hatte mit Sand geworfen. Etwas ging in die Augen der Mitspielerin, die zu weinen begann und aus dem Sandkasten geholt wurde. Böse Blick wurden von unverständlichen Wörtern begleitet. Wie ich dann von diesem Spielplatz entfernt wurde: Man wurde hart an die Hand genommen, ich weiss nicht mehr von wem, und nach Hause geschleppt. Die Tante. Die rotgequetschte Hand liess das Förmchen nicht los, aber kein Sand mehr darin, daheim angekommen. Immerhin die Erkenntnis: trockener Sand bleibt nicht haften und hängen. Mit ihm ist keine eigenständige, überdauernde Figur zu backen. Zerflossen, in Schuhe und Haare gewandert. Überall und nicht mehr los zu bekommen.

Kein Sand auf den Bergen auf den ersten Blick. Denn Sand liegt im Flachland, nur nicht der Dünensand der Sandberge einer Wüste. Und dort keine Kettenbildung. Hier dagegen? Wandern, Unrast, Ruhelosigkeiten. Die Berge vor den entlaubten Bäumen meines Fensters sind starr. Starren zurück, sobald sie mein Starren bemerken. Wundern sich, lachen, feixen über das morsche Haus, in dem ich dahinlebe, seine quietschenden Simse, seine Pilze, die leise auftauchen und wieder verschwinden. Schauen unverschämt herein. Fluchen über mich und das Haus, die keine Ahnung von Bergen haben, und nicht die leiseste, worüber Berge sprechen und sich amüsieren, wenn sie Ketten bilden. Derjenige, der sich erdreistet über sie zu schreiben, ist in ihren Augen ein dummer Ignorant. Derjenige hält ihren Blicken nicht stand, weicht ihnen geradezu aus, zielt an ihnen vorbei und durch sie hindurch. Die Undurchschaubaren. Sie sind nicht zu sehen. Das Eis, der Sand höchster Höhen, reflektiert; wirft zurück, bricht oder leitet um. Berge sind völlig unbegreiflich – sie rutschten sofort aus zitternden Händen, wollte man nach ihnen greifen.

Zu persönlich, zu intim wäre diese Geste. Die Annäherung an einen Berg muss immer scheitern. Zu Fuss oder mit dem Kopf voraus. Erst recht, wenn er in der Vergangenheit liegt und so flach ist, dass er kaum von den ihn umgebenden Tälern zu unterscheiden ist. Ein Berg ist erhaben. Eine Bergkette des Guten zuviel.

Dann bricht der Bleistift.  Zuviel der ersten Gedanken, dann die Worte über den Sand der Berge und deren grosse Hitze, wenn es soweit wäre. Zuviel, und bei Hitze – was tun? Die Alpen sind lebendig geworden und tauchen ihre Stirnen unter fabelhaften Bewegungen ins Wasser, finde ich an einer Stelle, als ich nicht mehr weiter weiss und nachschlagen muss. Eine Vorstellung, die ich gleich wieder verwerfe. Wo habe ich nachgeschlagen?

Der Bleistift bricht. Er ist in ein Gebiet vorgestossen, dem er nicht gewachsen ist. So spät ist es schon. Zwei Tage später und die Tür des Kühlschranks ist fast verschlossen. Er ist erstaunlich gut gefüllt, damit ich nicht mehr aus dem Haus gehen muss, um wichtigste Besorgungen zu machen. Um mich für weitere zwei, drei Tage zurückziehen zu können. Um ungestört am Fenster sitzen zu können. Um seinen Rahmen zu kritisieren. Um mir Gedanken zu machen, wie es wäre, würde ich einmal einen Berg fest ins Visier nehmen. Einen Dialog aufzubauen und ihm meine Meinung sagen. Es zieht ein wenig. Und bricht dann ab.

Dranmor III,1b

(Atomium)

Er habe nicht viel Zeit, habe noch eine Verabredung, über die er aber nichts genaueres sagen wolle. Aber schön, dass ich vorbeigekommen sei. Damit habe er nun wirklich nicht gerechnet. „Gläschen Sekt?“, fragt er mich, nachdem ich meine Jacke an einen scheusslichen Kleiderständer gehängt habe – eine altgetrimmte Stahlinstallation, harte Knicke, an anderen Stellen wieder weich gebogen. Schweissnähte. Am Ende verschiedener Stangen: Eisenkugeln. Atommodell?. Ich zucke mit den Schultern. Das Modell heisse Atomium III. Ein Objekt aus einer Serie eines befreundeter Schrottkünstler, erklärt er ungefragt. Ein Geschenk. Nein, ich finde es weder nett noch hübsch, auf die Frage „Nett, nicht?“ – versuche aber eine freundliche Geste in mein Gesicht zu zwingen. Versuche anerkennend zu wirken. Das Gläschen Sekt nehme ich gerne, nach den angebotenen Zigaretten, Mary Longs, greife ich ohne zu zögern. Habe ich Maria zum Abschied gegossen? In ihrer hydrokulturellen Umgebung dürfte sie es wohl drei, vier Tage ohne mich aushalten. Ob sie gemerkt hatte, dass ich plante, blau zu machen? Auch Wilhelm August sah mich etwas skeptisch beim Verlassen des Raums an. Wir stossen an. Auf. Auf … Auf uns, schliesst Roman den Satz. Er habe sich gut eingelebt. Er sagt: Etabliert. Nach so kurzer Zeit, nach so wenigen Wochen schon. Die Leute seien sehr freundlich, er werde oft eingeladen, bekomme auch Besuch. Darum hätte er heute nicht viel Zeit. Sei auf dem Sprung, um ehrlich zu sein. Aber wir würden uns ja schreiben; das müsse man unbedingt beibehalten. Wie es mir ginge? Ich erzähle ihm von Maria, Wilhelm August und einen Pilz, den ich für den Verlust meiner kleinen Hausmeisterstelle verantwortlich machte. Versuche ironisch zu klingen. Er rollt mit den Augen; denke ich eine Sekunde lang eine Grimasse zu sehen. Er unterbricht mich. Ich langweile ihn wahrscheinlich. Seine Unkonzentriertheit sorgt für Unruhe bei mir. Eines seiner Augen flattert. Er blinzelt auch. Mein Blinzeln, die Unruhe meiner linken Gesichtshälfte haben sich aber verflüchtigt. Die Bildschirmschoner an den Arbeitsplätzen zeigen einen Lauftext. Zeitlich versetzt die Botschaften an den Informationstheken entlang der Wände. Ich kann sie aus der Distanz nicht entziffern, die Buchstaben und Nummern, wende mich Roman ab und ihnen zu. Phrasales Neusprech, soviel ich erkennen kann. Terminologie, die viele Buchstaben verbraucht, aber nichts bezeichnete.

Roman hat sich angeschlichen und steht wieder neben mir, die Flasche zum Nachschenken angewinkelt. Erst ziehe ich meinen Arm zurück, gebe aber dann seinem Insistieren nach. Er stellt die Flasche auf ein grosses Registraturmöbel ab, öffnet eine Schublade, kramt darin und holte ein Buch hervor.

„Hier, für dich. Für deine Sammlung. Du hast doch noch mit Büchern zu tun?“ Eine Anthologie. Ein Text von ihm wurde darin publiziert. Er habe einige Freiexemplare erhalten und verteile sie nun an Freunde und Bekannte. Das Lächeln an seinem haarigen Mund. Er plustert sich ein wenig, nimmt einen grossen Schluck aus dem Glas, leert es, schaut auffällig unauffällig zu meiner Jacke am Atomium III. Ich verstehe, er muss. Er müsse nun und ich nicke wieder, stelle das Glas ab und gebe die Dekodierung des Bildschirmschoners auf. Ein Ionengriff. Wie freundlich, er will mir in die Jacke helfen. Ob ich ein Taschentuch bräuchte. Er versprach sich, wollte Handtuch sagen. Nein, es gehe schon. Das Buch, ja das Buch. Ich müsse versprechen, es zu lesen, zumindest seinen Beitrag, er würde mich das nächste mal darüber abprüfen. Beim Lachen sehe ich seine gelblichen Zähne. Einem Schneidezahn ist eine kleine Ecke abgebrochen. Dass ich auch schreibe, bislang erfolglos, will ich ihm noch sagen. Dass ich gerade an Etwas schreibe, versuche ich es erneut. Das glaube er gerne, seine Antwort. Das passe zu mir. Das nächste Mal, dann. Wir hörten voneinander. Als ich wieder in der kleinen Altstadtgasse stehe, drückt das seltsame Gefühl eines Ausbleibens. Auf der ganzen Fahrt nach Hause kann ich das krampfhafte Erinnern, ob die Eingangstüre eine Glocke hatte, nicht ausschalten.

Dranmor III,1a

(Büros)

In einem Kulturbüro. Was macht man in einem Kulturbüro? Was macht es mit einem? Roman konnte mir darüber keine klare Auskunft geben. Immer wieder ist das Wort Kommunikation gefallen. Dass er für ein Magazin schrieb, diese Angabe von ihm hatte sich bald relativiert, als Ente herausgestellt. Ein Werbeblättchen, für das er ab und zu einen kleinen Beitrag verfasste. Fast in der Freizeit, wie er sagte. Aber er hatte ausgiebig von seinem Büro geschwärmt. Ein Kellergewölbe, das Gewölbe, ein Kellergewölke im Souterrain eines Altstadthauses. Er vermittele Kontakte und verleihe Instrumente, Geräte. Interessante Leute, die er da träfe – er hoffe, er könne diese Kontakte auch einmal für sich selbst nutzen. Seine kleinen Schreibprojektchen, nannte er es. Konkreter wurde er selten in seinen E-Mails, wie geschaffen für das Vage, das Schnelle, aber nicht das Ausführliche, Inhaltliche. Auf Rückfragen reagierte er irritiert. Einsilbig, fast ausweichend; überspielte lustlos zu ironischen Bemerkungen, die am Ende häufig wieder in seinem Büro endeten, in dem er wenigstens halbwegs ungestört war, in dem er tun und lassen konnte, was er wollte, in dem er sich wohl fühlte – was wolle er mehr?

Noch rolle ich gleichförmig nach vorne, nach hinten, bald zu den Seiten, bis ich meinen Rhythmus gefunden habe und langsam mit meinem Becken einen Kreis skizziere, als wollte ich mit meinem Schreibtischstuhl die PVC-Unterlage zirkeln. Die Kiwi und die Banane haben das Wochenende nicht überlebt. Die Banane ist braun und füllt den Raum mit einer intensiven Fäule. Die Kiwi bekommt schon nach leichten Berührungen Druckstellen – Haare fallen ihr aus. Der Drucker summt im Stillstand ein leises Lied dazu, begleitet meinen Blick zu einer Buchreihe, die wieder angewachsen ist. Jedes einzelne wartet geduldig – oder ist es aufgeregt? – in dieser Reihe, ein fast britisches Schlangestehen, an den Kassen, oder der jungen Clubgänger an einer Freitagnacht, amüsierwütige Bücher vor dem Einlass. Ich, der Bouncer entscheide über ihren weiteren Weg. Der Bouncer, der ihnen vielleicht ein Schlagwort verpassen wird, oder nicht – nach eingehender Untersuchung und Begutachtung, dann dürfen sie passieren. Oder sie wandern in eine andere Schlange. Wie viele werden es heute sein?

Die Risse an der Decke bilden eine Symmetrie, ein gleichschenkliges Dreieck mit einer Deckenecke . Verputz, der sich erst seinen Namen verdient, wenn er fällt. Ein alter Radiator lässt seinen Kopf hängen, auf dem Regal hinter mir. Zu recht. Es geht ihm gut unter dem abblätternden Bildnis Wilhelm Augusts von Holstein-Gottorf. Er verbeugt sich würdevoll vor dem Fürsten, oder war es ein Herzog? Dessen rechte Hand ruht gelassen auf einem bleichen Globus, als streichelte er sanft Afrika oder einen anderen südlichen Kontinenten. Die linke schaut aus einem Rüschenärmel hervor und hält einen geöffneten Brief mit rotem Siegel. Er scheint ihn nicht zu interessieren und so lächelt er mich milde von oben an. Der Globus steht auf einem goldgefassten Tisch, darunter stranguliert sich ein Erpel mit einem Seil. Darauf: Ein Helm mit Federn, vielleicht Fasan, ein Ausschnitt einer Schweizer Karte – wahrscheinlich Mitte 18. Jahrhundert. Säbelrasseln. Der Säbel und daneben ein Orden mit den Initialen I.H.S. fallen auf. Warum hängt mir der noch jugendliche Wilhelm August im Rücken? Was sucht er in diesem Zimmer?

Dem Radiator ist das egal. Er weiss, was sich gehört, stellt keine Fragen und wird stromlos bis zum Sommer schweigen. Der Drucker summt auch dazu, summt das Lied des alten Ventilators. In meinem Jugendzimmer unterm Dach gab es einen grossen Deckenventilator. Ohne die Umwälzungen der Luft in den Sommern vor vielen Jahren wäre es dort nicht auszuhalten gewesen. Auf welchen Schrottplatz rostet er nun? Oder wurde er begraben – oder ist er nun eine Dose. Mein Blick fällt auf Maria. Aglaonema Maria lautet ihr vollständiger Name. Eine Zimmerpflanze, die ich zum Antritt der Stelle von meiner Abteilung geschenkt bekam. „Lichtbedarf gering. Giessen / Düngen: regelmässig“. Sie wird etwas unscharf, wenn ich sie nur lange genug anstarre. Von Zeit zu Zeit streichle ich etwas Staub von ihren wachsigen Blättern. 430795 15/19 ist ein von mir noch nicht entschlüsselter Code auf ihrem Datenblatt am Rand des Topfes. Ich schenke uns etwas Wasser ein. Dünger ist noch genug vorhanden. Eine Verschlusskappe Algoflash reicht ihr in der Regel. Sie nimmt es gierig auf, verlangt dann etwas Wasser aus meinem Glas. Muss Spülen.

Der Drucker verstummt. Oder kann ich ihn nicht mehr von der faulen Stille des Raums unterscheiden? Hinter der Türe, auf dem Gang schlurfen Schritte. Das Hören, also, funktioniert. Das linke Auge scheint aber etwas zu blinzeln. Vielleicht sollte ich doch mehr Früchte essen, sollte mich dazu zwingen. Sie müssen sich dazu zwingen, hat man mich angewiesen, Vitamine zu essen, soviel ich könne. Aber sein milder Blick. Vielleicht will er auch gar nichts von mir. Sucht etwas ganz anderes. Ich nehme noch einen Schluck, spende den Rest Maria. Der Schrank mit den Dubletten sollte auch geschlossen sein. Ah, ja, richtig – der Schlüssel fehlt. Die Schritte verhallen. Diesen Stapel nicht heute. Nein, diesen Stapel morgen, frühestens morgen. Wenn Maria nur nicht so viel saufen würde – kein Mensch kümmert sich um sie übers Wochenende. Ich muss wieder Wasser holen. Für sie. Für uns. Ich könnte bei dieser Gelegenheit auch Wasser lassen. Jetzt. Der Gang scheint frei. Die zehn Meter zur Toilette sind ein Kinderspiel. Kein Risiko. Der Brief an Roman kann warten. Heute mittag, vielleicht. Heute mittag wäre ein guter Zeitpunkt. Ein ganz zwangloses Treffen nach der Arbeit. Vielleicht zeigt er mir sogar sein Büro. Die Luft ist rein. Ich drücke die Klinke vorsichtig hinunter und strecke langsam den Kopf in den Gang. Alles ist friedlich. Für dich, Maria, und für mich – bin ich gleich wieder da.

Dranmor II,3a

(Koffer)

In meinem Hörbuchkoffer wird es eng. Dort verdichten sich Anderswelten, an Wochenenden, wenn ich alleine bin. Ich kopiere Lesungen von Büchern und sammle diese – manchmal höre ich sie mir auch an. Ich kopiere gerade und kann deshalb nicht hören. Seit Stunden, achtzehn CDs von Swanns Welt und frage mich, wann ich Zeit finden soll, diese zu hören, wenn noch nicht einmal Zeit da ist, zu lesen. Das eine als Ersatz des Anderen. Als Variante der Aufnahme. Als Dieb. Das Pendeln zwischen Computer und Küchentisch, auf dem leere Blätter liegen, und noch nicht einmal klar, deren Befüllung.

Ich habe fast vergessen, warum ich alle Heizungen hochgedreht habe. Nur das Raureif des Rasens im Garten vor dem Fenster erinnert mich ein wenig. Die Klimata: Aussen Nordpol – innen Brasilien. Welten da und dort. Die Fragen des Daseins und Dortseins bei Dranmor sind offensichtlich. Der Apodemialgiker, hätte man früher vielleicht gesagt, der um sein / Leben wandert / schon nicht / mehr gerne da / ist / nur noch vor Ort //.

Dagegen spricht, dass er es lange in Rio ausgehalten hat, in Paris, aber nicht in Basel oder irgendwo in Österreich. Die Reise wurde sein Ort, schätze ich. „Die Reise und das Grab“ – ein schönes Thema – und das Grab als „Reise zum Grab“, ein anderes. Grabreiseleben. Das nur, weil er so gerne Schöngeist gewesen wäre? Weil er gegen seinen Willen zum Geschäftsmann gemacht wurde? Ich verstehe, dass nur die Flucht ins Ausland blieb. Ich verstehe das zu gut, auch wenn der Vater schon lange tot war; das Gesetz des Vaters wirkte weiter. Ich lege eine neue CD ein und starte die Brennroutine.

So entstehen Koffer. So werden Koffer gesucht und besorgt – und das Leben zur Reise. Irgendwo, am Ende deiner Zeit, vielleicht ein Gral. Oder eine goldene Medaille. Aber bald die Einsicht: Die Welten sind nicht hier, sondern immer woanders. Ich stelle mir einen grossen Überseekoffer vor, vielleicht auch zwei oder drei, er stammte immerhin aus einer wohlhabenden Familie. Ich stelle mir vor, dass er nur wenige Kleidungsstücke hineinlegte. Ein paar Paradehosen vielleicht. Ein paar Hemden und eine Jacke mit obskuren Orden. Aber sonst: viel Briefpapier, wahrscheinlich. Schreibzeug. Ein Koffer, mindestens, bis zum Rand gefüllt mit seinen geliebten Klassikern – und Romantikern. Mehr Romantiker. Das Kreuzundquer, darin, und die Hoffnung, sich selbst einmal dort hineinzulegen. Das war sein eigentliches Ziel.

An Samstagmorgenden beobachte ich das langsame Schmelzen des Raureifs an grünen Halmen. Noch langsamer, als die allmähliche Auflösung des Eiswürfels in meinem Glas. Zu früh, zu schnell, zu dünn wandelt sich dann das sirupartige Getränk. Andere Dinge lösen sich auf – darin. Ich höre genau hin, wenn ich die gebrannten CDs noch einmal überprüfe. Ihre Qualität ist mir wichtig. Wenn das nachgeworfene Eis plötzlich springt, sich mit einem leisen Knacken halbiert, entgeht mir auch das nicht. Ich höre solange genau, bis sich das Hören mit Watte befedert. Dann ist wieder Zeit für einen kleinen Schlaf. Ich achte auch auf die Qualität des Schlafes.

Ich kann nicht mehr Autofahren. Die Strasse verschwimmt an den Rändern und ich halte an. Auf dem Beifahrersitz liegt eine Flasche Wasser. Wer hat sie da hingelegt? Ich trinke hastig, zittere, schalte den Motor ab. Leichtes Nachzittern, dann verstummen. Weil ich nicht soviel trinken kann, wie ich schwitze, habe ich Angst, ich trockne aus. Warum stehe ich auf einer Strasse, an einem Strassenrand? Ohne Führerschein, ja, ohne Auto? Wo liegt dort der Sinn? Der Sinn liegt immer auf der Rückseite der Dinge, also steige ich aus und bewege mich über gefrorenes Gras. Ich habe das Warnblinklicht nicht angestellt, aber es ist hell genug, das Schlüsselloch zu finden. Ich öffne den Kofferraum. Gottseidank, es ist noch alles da. Alles, überdeckt mit einer dünnen Sporenschicht. Alles ist an seinem Ort.