Dranmor Mottos

(Materialien zur Mottoanalyse)

nach der Ausgabe Frauenfeld, 1900:

Die Dichtkunst ist eine lange Liebe

(Jean Paul)

Nicht immer geben die Schriftsteller ihr Bestes in ihren Werken aus

(Julian Schmidt)

Among them, but not of them, in a shroud

Of Thoughts which were not their thoughts

(Childe Harold)

6

Das Meer der Jugend, wogend und hoffnungsreich,

Wie lacht` es einst dir, branndend in Wonnesturm!

Nun kannst du still am Strande gehen,

Muscheln und Trümmer im Sande suchend.

(Julius Große)

14

Say that thou loath`st me not – that I do bear

This punishment for both – that thou wilt be

One of the blessed – and that I shall die.

(Manfred)

16

Da sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der

Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern,

welche sie wollten.

(Genesis)

16

If I die first, dear love,

My mournful soul, made free,

Shall sit at heavens high portal,

To wait and watch for thee –

To wait and watch for thee, love,

And through the deep, dark space

To peer, with human longings

For thy radiant face.

(Charles Mackay)

34

Huldvoll, wie die Muse mir erschienen,

Als vor mir des Lebens Fülle lag,

Spendest du mir jetzt mit Engelsmienen

Einen neuen späten Frühlingstag

(Ernst Heller)

38

Das Mitleid ist die letzte Weihe der Liebe, vielleicht die Liebe selbst.

(Heine)

40

Ich glaube, daß du weinst; du bist gerührt;

Ich habe solchen Tau seit vielen Jahren

In diesen dürren Höhlen nicht verspürt.

(Ryléjew)

89

Spurlos ist der Ocean,

Ueberall und nirgends Bahn;

Kalt schlägt die Welle, kalt und leer

Ans volle, warme Herz heran;

Wohin du lugst – ein Strich – nichts mehr –

Kalt, mein Junge, ist der Ocean!

Einsam ist die See!

(C.F. Scherenberg)

112

Freiheit ist die große Losung, deren Klang durch-

jauchzt die Welt.

(Anastasius Grün)

112

Le réel est étroit, le possible est immense.

(Lamartine)

112

Wenn einem aber das Meer seine Geheimnisse offen-

bart, und das große Welterlösungswort ins Herz ge-

flüstert, dann ade, Ruhe! Ade, stille Träume! Ade,

Novellen und Komödien –

(Heine)

135

C’est moi qui te dois tout, puisque c’est moi qui t’aime.

(Voltaire)

140

Um ein Totes trauert sich’s besser als um eines, das

man verloren hat und das noch lebt.

(B. Auerbach)

140

Sprich zu mir mit der süßen, sprich zu mir mit der

vertrauten Stimme; meine Seele dürstet nach Liebe.

(Neugriechischer Dichter)

143

I’ll praise, admire and worship thee,

But shall not, dare not love again.

(Thomas Moore)

144

O mein Heimatland! O mein Vaterland!

Wie so innig, feurig lieb’ ich dich!

(Gottfried Keller)

144

Heimweh ist die Krankheit einer schwachen oder einer

erschöpften Seele.

(k.A.)

147

Was frommt des Herzens Zug,

Gebricht die Kraft zum Flug?

Teurer, denk’ an mich und weine – weine!

(Kaiser Maximilian)

147

A peine un homme a-t-il une couronne sur la

tête, qu’elle lui descend sur les yeux

(Châteaubriand)

165

Unter rankendem Blätterdach

Duften Blumen und rauscht der Bach,

Badet schimmernd sich die Libelle,

Welche flüchtig den Spiegel streift,

Während die lüstern erregte Welle

Ihr nach dem schillernden Fittich greift.

(Gottschall)

173

Minha terra tem palmeiras,

Onde canta o sabiá.

(k.A.)

177

Frage mich nicht:

Wie wird’s noch mit uns Beiden?

Laß, die es bricht,

Dem Herzen seinen Wahn.

O ich versteh’

Dein schönes, stummes Leiden:

Schaust mich mit Weh,

Mit stummem Vorwurf an.

(L. Seeger)

201

Der Himmel finster und gewitterschwül

Umhüllt sich tief, daß er sein Leid verhehle,

Und an des Lenzes grünem Sterbepfühl

Weint noch sein Kind, sein liebstes, Philomele.

(Lenau)

203

Poesie ist das Einzige, was uns das Leben erträglich macht.

(J. J. Honegger)

206

Die Pfaffen haben sein Gehirn verriegel;

Sie haben ihm den Gottesgnadentraum

Mit albernem Gewäsche vorgespiegelt.

(G. Heller)

210

Seit dem letzten Sonnenstrahl

O wie weit die Reise!

Weiter, weiter tausendmal

Als vom Kind zum Greise!

Jüngst erst auf der Mutter Schoß

Ihr am Busen lagst du;

Nun, die Größten, riesengroß,

Plötzlich überragst du.

(U. F. von Schack)

212

Nichts stillt mein Heimweh nach den Alpentriften,

Nach all den teuren, wohlbekannten Gauen.

(Heinrich Leuthold)

219

Ueber den Tod soll man weder lachen noch weinen.

(Alter Spruch)

219

Heil, o Frühling, deinem Schein!

Morgenluft, Heil deinem Wehn!

Ohne Kummer schlaf’ ich ein,

Ohne Hoffnung, aufzustehn.

(Rückert)

220

Ueber allen Gipfeln ist Ruh;

In allen Wipfeln spürest du

Keinen Hauch;

Die Vögel schweigen im Walde!

Warte, warte nur – balde

Schläfst du auch.

(Goethe)

220

Für alle hab’ ich gesorgt und gestrebt;

Mit Sorgen trank ich den funkelnden Wein;

Die Nacht ist gekommen, der Himmel belebt,

Meine Seele will ich erfreun.

(Uhland)

220

La voix de la terre est un éternel sanglot qui

se perd dans l’éternel silence des cieux.

(G. Sand)

220

Ich möchte hingehn wie das Abendrot

Und wie der Tag mit seinen letzten Gluten.

O leichter, sanfter, ungefühlter Tod.,

Mich in dem Schoß des Ewigen verbluten!

(Herwegh)

220

Melancholie ist die Freudigkeit Gottes. Kann man

froh sein, wenn man liebt?

(Börne)

220

Tout penser sans crainte,

Tout quitter sans plainte,

Tout comprendre sans voir,

Tout aimer sans espoir.

(Dranmor)

Dranmor II,2c

(Waldleben)

Ich habe noch nicht über die Nacht gesprochen. Die Nacht, eine der Nächte, alle Nächte sind ein Pilz, Schmarotzer am Himmel. Über die Nacht als Wald eines Tages. Der Pilz, der Dichter, sämiger Belag auf meiner Zunge, der mit den Vorderzähnen abgerieben werden kann. Der eine blauweisse, klebrige Masse ergibt, die ausgespuckt oder geschluckt werden kann. Der eine Spur, Doppelspur auf der Zunge hinterlässt. Blut. Loipenblut! Habe ich mir auf die Zunge gebissen? Paternina. Heimat. Heimatwald.

Ich habe noch nicht über die Nacht gesprochen, denn die Nacht ist ein eigener Text. Die Lektüre der Nacht eine eigene Lektüre. Etwas anderes als der Tag – etwas anderes als am Tag.

Dranmors Waldleben im Spätherbst. Dämmerungszeit, ermüdet und verdrossen. In der Nacht erscheint Lady Margaret, deren Liebe er umsonst erflehte. Lady Margaret, der Pilz Dranmorscher Dichtung, denke ich eine Sekunde, der Belag der Dranmorschen Zunge, der Menge der Wörter im Waldleben. Der Belag ist auch Sarg und Kranz: auf der Zunge, die Zunge als Sarg der Geliebten. Die Geliebte als Wort, als Dichtung. Die Einsicht des Todes dieses Gedichts, der Dichtung Dranmors, der Dichtung schlechthin. „Modrige Pilze“ notiere ich auf einen Zettel. Natürlich, ich werde nachschlagen müssen, wann dieser Text entstanden ist. Ich sehe Dranmor als Waldmenschen. Ironiker in barocker Verpackung. Einer, der wusste, was er schrieb – Unlesbares. Das Furchtbare. Die Täuschung. Freund, wir müssen wieder gehen. „Wir“, das sind die Wörter.

Nachtmotive. Waldmotive. Pilzmotive. Paterninahermeneutik. Morgen sieht es sicher ganz anders aus, aber ich weiss, nur so lässt sich etwas lesen. Die Legitimität der Interpretation: Ich darf damit spielen. Ich muss damit spielen, damit das Spiel weitergeht. Geht es nicht auf, dann probiere ich es aufs Neue. Probiere ich es anders herum. Bin ich Lady Margaret. Die tote Leserin, die von einem Text, der gerade rezitiert wird, fast ausgespuckt wird, vor dem Spiegel im Bad; der kleinere rote Flecken im Waschbecken hinterlässt.

Ich bin Lady Margaret. Für vier Sekunden, für zehn Minuten. Solange ich will.

Ich habe noch nicht über den Morgen gesprochen. Morgens sind die Lektüren anders. Morgens liegen Zettel auf dem Küchentisch. Heute steht ein Name darauf. Lady Margaret. Darunter: Waldleben, wann? Darunter: Erstausgabe kaufen! Wenn möglich. Ich muss zur Arbeit. Ich recherchiere das.

Dranmor II,2b

(Newton)

Sie würde ich nicht wiedersehen. Ich verwerfe den Plan, im Schmutz zu wühlen, weiter eine kriminalistische Spurensuche zu veranstalten, mit der Hoffnung auf einen Skandal. Skandalös ist das, was auf dem Weg, auf der Suche nach einem Skandal, einer Unschärfe, einer Passungenauigkeit, Unpässlichkeit, passieren kann, wie ich feststellen musste. Lächerlich, amateurhaft, meine Vorgehensweise. Ich nehme die Pizza aus dem Ofen und öffne einen Paternina, schenke mir Glas ein. Blue Label – zur Feier des Tages.

Spuren erfinden, legen, um sie dann zu suchen und zu finden. Und trotzdem eine fast kindliche Überraschung: Ich erinnere mich: Die Plastikfolie so erregt aufgerissen, so freudig, so gespannt auf die nächste Folge des Kindermagazins (oder war es schon für Jugendliche – ich Jugendlicher?). Am Anfang hatte ich es mir heimlich gekauft, nachdem es von den Eltern als pädagogisch wertlos eingestuft wurde. Comics waren auch darin. Die ganzen Schmutz- und Schund-Debatten der 60er und 70er konnten an diesem Heft, an mir abgearbeitet werden.

Aber auch Kreuzworträtsel und eine Witzseite. Das besondere an der Zeitschrift war aber das sogenannte Gimmick. Mal Spielzeug, Bastelei, Kuriosum. Eine Heftbeigabe. Spass und Spiel auf die ich eine Woche brannte, wenn das Heft noch am gleichen Mittag des Erscheinens zerlesen war. Etwas zum Sägen, Knobeln, Falten, anderes. Die Samen der Hängetomaten, beispielsweise. Ich hatte mich rührend um sie gekümmert, und tatsächlich entstanden Keime, die Pflanze wuchs, wenn deren Früchte auch bald auf dem Balkon von Vögeln geraubt wurden.

Von den Urzeitkrebsen, irgendwelches Wassergetier, das in einer Art Aquarium aus scheinbarem Staub erwachte, hatte sich meine Mutter geekelt. Als sie zu saufen anfing, erst heimlich, verlor sie langsam jeglichen Ekel, den man gegenüber manchen Dingen entwickeln konnte.

Ich glaube immer noch, Vater hatte sie auf ihren Wunsch ins Klo gekippt und hinunter gespült. Grosse Krise. Mein Tagelanges Schweigen. Ich konnte endlos Schweigen – ich denke, das hat ihnen Sorge bereitet. Mein langer Atem, was da Schweigen betraf. Schweigekraft. Ich hatte sie das erste Mal weichgekocht. Und wurde das erste Mal, eines der wenigen Male belohnt. Ich erhielt ein Jahresabonnement dieser Zeitschrift mit Gimmick. Offiziell, weil sie ja nicht ungerecht erscheinen wollten. Inoffiziell, weil ihr pädagogischer Plan Risse bekommen hatte. Die Detektivserie dann. Ich war mindestens ein halbes Jahr Detektiv. Die Dreieinhalbzimmer-wohnung war Detektei. Meine Schwester Sekretärin. Es gab immer Motive für Verbrechen. Meine Eltern immer verdächtig oder zu befragen. Gimmicks: Das Fingerabdruckpulver, das Flecken an der geblümten Esszimmertapete hinterliess. Schwarze Streifen. Ein Satz verschiedenster Identitätskarten und -ausweise. Ich nannte mich Newton, lange bevor ich wusste, dass es einen Wissenschaftler gleichen Namens gab. Mein Vornamenpseudonym hab ich vergessen. Der Satz kombinierbarer Phantomphotographien. Das selbstzubauende Spiegelrohr, mit dem man um die Ecke schauen konnte. Ich hatte diese Frau verfolgt, aus unserer Nachbarschaft. Habe sie nach allen Regeln der mir angelesenen Kunst beschattet. Offensichtlich nicht besonders diskret. Stümperhaft. Dann stand sie einmal vor unserer Haustüre und beschwerte sich. Sie hatte von einem kleinen Lüstling gesprochen. Die Eltern hatten sich über diesen Begriff lustig gemacht, sie oft imitiert, wie sie da stand, vor der Haustüre und sich in Rage redete. Der Vater des Lüstlings entwendete später dann doch die komplette Ausrüstung der Detektei, entsorgte sie. Die Detektei löste sich wieder in eine Dreieinhalbzimmerwohnung auf. Meine Mutter genehmigte sich zum ersten Mal einen. Meine Schwester war arbeitslos und glücklich. Das Schweigen brachte nichts mehr. Nein, ich war kein guter Detektiv. Ich werde mich mit dem zu beschäftigen haben, was vorhanden ist.

Der blaue Paternina enthält besonders viele Schwebeteilchen. Meine Lippen, besonders die etwas rissige Unterlippe ist purpurrot gefärbt, die Zunge fast blau. Ich schenke noch einmal nach. Auch der dritte biographisch geprägte Artikel aus einer Festschrift beschäftigt sich nur am Rande mit seinem Ableben. Verschweigt oder lenkt ab. Nimmt vor allem aber seine Unstetigkeiten unter die Lupe. Die Reisen. In bester positivistischer Manier zählt er die Orte auf, an denen Dranmor sich aufhielt, was dort jeweils entstanden war, führt Textstellen und Zitate an, die so unverschämt auf eigene, persönliche Befindlichkeiten umgedeutet wurden, dass man fast meinen könnte, der Autor hätte sich mit seinem Objekt verschmolzen. Besserwisserei. Trittbrettfahrerei. Kritiklosigkeiten. Weiß nicht, wie dies alles kam,/ Daß du so mich überwunden, heisst es an einer Stelle.

Dranmor II,2a

(In den Krähenkrieg / Genealogie)

Ein Novembermorgen drängt sich auf. Langsam, durch mein Bürofenster hindurch, hinein, und stört, wo er nur kann. Die Zeitung meldet nichts Gutes. Ein Vogel beobachtet meine Lektüre vom Handlauf des Balkons aus, vor dem Fenster – durch das Fenster. Ein neugieriger Spatz, belesen, mustert, wenn er kann, das Rauminnere, die Bücher in den Regalen, den Schreibtisch, auf dem kein Platz mehr ist, mich. Du stehst nicht auf der Todesliste – noch nicht. Zunächst zieht der Kanton in den Krähenkrieg, will die – einigen offensichtlich zur Last gewordenen – Rabenkrähen mit Maiskörnern betäuben und dann töten. „Krähenkrieg“, die Schlagzeile. Aufmacher. Schadensverursacher. Die Obstanlagen. Die Symbole. Ist die Rabenkrähe fort, mein Freund, wird man sich nach anderen Störern umschauen. Vielleicht bist du der nächste.

Die Arbeit fliesst nicht von der Hand. Der Rückstau an Büchern, die Stapel der Prospekte, zu schreibende Protokolle, in ihrer Menge unübersichtlich, werden verdrängt: An den Rand des Tisches, in Schubladen, in geheime Schränke. Spleeniges, subjektive Hartnäckigkeiten, fixe Ideen im Vordergrund: Es muss doch etwas da sein. Vorhandensein. Einige, fast alle Aufsätze zu Dranmors Dichtung und Leben sind gekommen, fast alles, was lieferbar oder kopierbar war, so die Bibliothekarin. Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich nicht mit Unvollständigkeiten leben kann? Der einzige Fingerzeig, die Vettersche Anspielung, dass etwas nicht in Ordnung war – eine Zweideutigkeit, eine Unregelmässigkeit vor einhundert Jahren.

Ich finde einunddreissig Einträge zum Namen Vetter im städtischen Telefonbuch. Der Kollege gegenüber wird bald sein Frühstück nehmen, den Raum verlassen, hoffe ich, es ist bald Neun, ich warte; ich kann warten – auf glühenden Kohlen.

Die Masche ist so einfach wie genial: Unter falschem Namen gebe ich mich als Literaturwissenschaftler aus, der hierher gereist war, um über einen Berner Dichter zu forschen, einen, der zu Unrecht vergessen wurde, um ihn posthum zu würdigen. Das ginge ans Berner Herz. Kantonaler und familiärer Stolz würde den telefonischen Eintritt in die Wohnzimmer der potentiellen Urenkel des Zeitzeugen erleichtern. Ich schildere die Umstände, erfundene Tatsachen, präzisiere Fragen. Freundlich, oft, die Antworten, man könne mir leider nicht helfen, es bestünde in ihrem oder seinem Falle keine direkte Verwandtschaft. Rita Vetter, endlich, eine Kioskbesitzerin, erinnert sich, einen Urgrossvater mit dem Vornamen Ferdinand gehabt zu haben. Ein paar Verwechslungen zuerst: Die Vornamensvetterschaft Ferdinand Vetters und Ferdinand Schmids alias Dranmor, die mir in meinen Recherchen auch zu schaffen machte, ich verhaspele mich ein paar mal, bis ich die Zusammenhänge für sie und mich befriedigend erklärt habe. Sie könne eigentlich nicht viel über ihn wie ihn sagen, hätte auch keine weiteren Verwandtschaften hier in Bern. Im übrigen sei gerade viel Kundschaft in ihrem Geschäft, ob ich nicht vielleicht heute Abend um Sieben nach Ladenschluss bei ihr vorbeischauen, mit ihr sprechen möchte, es gäbe möglicherweise noch Briefwechsel, Unterlagen aus der Zeit. Ich notiere mir ihre Adresse und sage zu.

Der Kiosk liegt direkt am Ende der Bahnlinie Drei. Ich verlasse das Tram, gehe zielstrebig auf das kleine Ladenlokal zu, zähle Schritte. Ein Eiscremewimpel flattert im Wind, ein voller Papierkorb neben der Eingangstüre bewegt sich nicht. Aus dem Ladeninnern dringt nur schwaches Licht auf die Strasse. Restlicht aus dem hinteren Bereich, der Schein einer Kerze, ein Kerzenleuchter. Ohne anzuklopfen trete ich ein, zucke zusammen über das Läuten winziger Glöckchen über der Türe, ein Hund bellt am Ende der Strasse. Der Vorraum vor der kleinen Theke ist verraucht: Tabak und Räucherstäbchen. Soweit ich im Dämmerlicht sehen kann mit Zeitungspaketen und Warenkisten verstellt. Mein zaghaftes Hallo. Auf der obersten Reihe einer Zeitungsauslage die üblichen pornographischen Periodika, darunter Regenbogenpresse, meine Hand greift nach einer Schlagzeile.

Guten Abend. Eine schwache Deckenbeleuchtung flackert auf und zeigt einen braunen Raum. Ich müsse entschuldigen, sie habe gerade ein Bad genommen und musste sich noch etwas überwerfen, ihre Wohnung liege im hinteren Teil des Gebäudes. Rita ist Mitte Fünfzig und trägt ihr dunkles, an den Seiten ergrauendes, langes Haar offen – ihr schwarzer Bademantel scheint hastig verschnürt. Sie freue sich sehr über Besuche nach der Arbeit. Nach dem Tod ihres Mannes passiere das nicht mehr allzu häufig. Ob ich eine Tasse Tee mit ihr trinken möchte? Ich möchte lieber nicht. Komme gleich zur Sache.

Die Urenkelin des Biographen des Dichters. Die Umstände des Todes – ich fasse zusammen, möglicherweise etwas wirr, aber ja, sie habe noch einen Karton mit alten Schriftstücken, Briefen, sie konnte sich nicht davon trennen, vor allem wegen der Briefmarken, die vielleicht noch einen Wert darstellten. Ich solle doch mitkommen, gleich hier hinten könne ich Einsicht nehmen. Ich folge ihr durch einen kaum begehbaren Gang. Schuhe und Kleider auf dem Boden, Muff bis unter die niedere Decke, trete ich in ein kleines Zimmer, einer Art Wohnküche, ein. Schauen Sie in dieser Kiste nach. Sie öffnet den Deckel: Alte Briefe, Staub, Dokumente, ich müsse sie mir einmal ansehen, sie habe noch nicht darin gelesen, nur geblättert, die Schrift, Handschrift mache ihr etwas Mühe, eigentlich sei für sie alles unlesbar. Ich beuge mich über die Kiste, greife nach dem ersten Papier, als mich ihre dünne Hand am Hals zu streicheln beginnt. Ich ignoriere sie. Der Brief, alle Briefe wahrscheinlich, nicht aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert. Ein Ferdinand Vetter als Absender oder Adressat, sicher, aber die Poststempel, auch vereinzelte Datierungen – aus den Dreissiger Jahren. Unmöglich also eine Beziehungsmöglichkeit dieses Vetters zu Dranmor; die Hand streicht weiter, mir nun über den Rücken und will sich an meiner Hose zu schaffen machen. Ich drehe mich entrüstet um. In diesem Licht sieht Rita elend aus. Rabenhaft. Krähenhaft. Ihr Bademantel ist nun halb geöffnet, ich kann eine verdorrte Brust erkennen. Komm, sagt sie. Ich entschuldige mich höflich, ich müsse weiter und entreisse mich ihrer Umklammerung, eine Hand versucht noch mich an einem Jackenärmel zu halten. Beim hektischen Gang durch die Diele stolpere ich über ein paar Schuhe, kann mich aber wieder aufrappeln und finde den Ausgang des Ladens. Corvus corone corone. Ein paar Glöckchen läuten.

Dranmor II,1c

(Unterm Dach)

Seit zwei Tagen sitze ich unterm Dach in meiner Mansarde. Ich sitze dort nicht die ganze Zeit, natürlich nicht, nur, wenn ich nicht arbeite, was offiziell als Arbeit bezeichnet wurde, nur wenn ich nicht unten in meiner Wohnung, die Distanz zweier Stockwerke, zu tun habe, also nun, ausgiebig, es ist fast Wochenende.

Hier oben lese und schreibe ich. Innerhalb von zwei Tagen habe ich das kleine Dachzimmer, geschätzte fünf Quadratmeter, aufgeräumt, entrümpelt, Dinge fortgeworfen, verdichtet und weggepackt, um diesen Raum nutzen zu können, zu bewohnen. Die Vermieter, Hausverwalter hatten mich darauf aufmerksam gemacht, ich möge doch nicht in der Wohnung rauchen, wie sie es von meinen Nachbarn erfahren hätten. Es wäre nicht vorgesehen, das Treppenhaus enthielte nun unangenehme Gerüche, und das Streichen der Wände der Zimmer, zöge ich einmal aus, obläge dann mir, wie sie es formulierten, also diese Bitte.

Ich mache mir diese kleine Kammer hier oben zunutze. Ich möchte weiter lesen und schreiben und kann nur weiter lesen und schreiben, wenn ich dabei rauchen kann. Um die kahlen, putzrissigen Wände der Kammer zu decken, um eine andere Akustik zu erreichen, nicht dass ich hier oben spräche oder andere Geräusche verursachte, um eine Wohnlichkeit herzustellen, habe ich Bilder aufgehängt. Kleine, im Verfallen begriffene Holzrahmen mit Schwarzweissphotographien von Verwandten, einer älteren Generation, die ich nicht mehr zuordnen kann, hier oben verortet, von denen ich mich nicht trennen konnte.

Den kleinen, wurmstichigen Holztisch habe ich im Keller gefunden, ebenso ein wackliges Bücherregal, nun mit modernen Apokryphen bestückt. Zwei grosse Strandmatten decken den Boden, um Schmutz und Staub zu kaschieren und den Raum barfuss begehbar zu machen.

Dranmor, Ferdinand Schmid, wie er ursprünglich hiess, wie er eigentlich heisst, so sein Taufnahme, aber Dranmor, Selbsttaufe, warum auch immer, ist in keinem einschlägigen Lexikon verzeichnet. Kindlers und das KLG ignorieren ihn vollständig. Im Internet waren nur ein paar vage, unwahrscheinlich klingende Satzfetzen zu finden – seine Werke, ein schmales Werk, eigentlich, einbändig, längst vergriffen, aber von mir in einer Kurzschlussaktion auf einer Auktionsplattform im Netz ersteigert.

Ein schmaler Band liegt vor mir unter dem Dach auf einem wurmstichigen Tisch und eine Zigarette verglüht daneben. Frauenfeld. Die vierte Auflage von 1900 der Gesammelten Dichtungen. Ein Eingangszitat runzelt die Stirn: Die Dichtkunst als lange Liebe – von Jean Paul. Ein prätentiöser Einstieg, finde ich. Ob es hier oben Insekten gibt? Oder Flöhe? Meine Wade reibt sich an einem rauhen Tischbein, das ich bequem von dem Schaukelstuhl aus, ebenfalls ein Kellerfindling, erreiche. Ich überblättere das Vorwort, die Vorworte – Vorwörter? – zu den verschiedenen Auflagen, wundere mich, dass sie alle in diesem Band erschienen, mitgeschleppt wurden, und lande hinter dem letzten.

Wanderbuch, der erste Titel, nein kein Gedichttitel, eine Kapitelüberschrift, wieder mit gewichtigen Zitaten: Exilium vita est, so der Untertitel des ersten: Ein Kind, des Geistes Schwingen kaum entfaltend, / Las ich von Thaten, kühnen, wunderbaren, / von Abenteuern, märchenhaft, gestalten, /

Märchenstunde. Ich inhaliere tief und blättere wieder ein paar Seiten zurück zu einem biographischen Teil – fresse mich darin fest. Von Zeit zu Zeit muss ich an dem Buchrücken schnuppern, süss und rauchig, eine schöne Ausgabe, Goldprägung, Ornament, das Initial des Wahlnamens, Coverschmuck, verspielt. Dunkle Andeutungen über ihn, im Vorwort, ein paar Namen werden genannt, von solchen, die es besser wüssten, man wolle hier nicht zu viel mutmassen, aber doch: ein seltsames Leben, trotz seinem konventionellen Schaffen, oder war es umgekehrt? Ich notiere ein paar Randdaten und Hinweise auf weiterführende Literatur in ein kleines Heft.

Die Bibliothek war noch geöffnet. Ihr Katalog hatte den gleichen Titel, die gleiche Auflage verzeichnet, dort also keine Möglichkeit, Gerüche unterschiedlicher Zeiten zu vergleichen, wie ich es vorhatte, aber ein anderer Fund, wie ich recherchierte, Fundstücke, Mosaiksteine, Erinnerungssplitter, eine Reihe von Artikeln, die in einer Schweizer Literaturgeschichte der Sechziger Jahre letztmalig verzeichnet waren. Und tatsächlich: zumindest zwei wurden mir von einer freundlichen Bibliothekarin als Kopie ausgehändigt, mit dem Hinweis, ich müsse mich mit den anderen etwas gedulden, sie müssten bestellt werden. Auf ein anderes Mal, unsere Verabschiedung in den Abend.

Ich gehe zu Fuss nach Hause, durch die Altstadt, den Berg hinunter am Hirschengraben vorbei, in der Tasche etwas Fleisch für Captain Trelawney, wie ich hoffe, mit dem Kopf schon unterm Dach.