Dranmor I,2b

(Diskurse)

Was für ein Zufall, ihr kennt euch? Hatte er belustigt gefragt. An einem Abend an dem ich ein paar Kommilitonen eingeladen hatte. Wir kannten sie also beide, aus unterschiedlichen Kursen. Er war an diesem Abend nicht lange geblieben, hatte uns aber noch viel Spass gewünscht. Später habe ich lange darüber nachgedacht, was er wohl damit meinte. An diesem Abend blieb sie bei mir über Nacht. Es passierte nicht viel, würde man heute wohl sagen, aber wir begannen danach uns regelmässig zu treffen, auch wenn nicht ausgesprochen wurde, nicht ausgesprochen werden sollte, was aus uns würde. Ich erzählte Roman davon, machte Andeutungen, sicher hatte er bemerkt, dass ich weniger Zeit für ihn hatte. Das mache nichts, er hätte auch jemanden kennen gelernt. Man könne sich ja gegenseitig austauschen, sich auf dem Laufenden halten, bei ihm sei es nichts Ernstes, er denke, das wäre bei uns auch so. Ich hatte darauf nichts entgegnet, war aber erstaunt, dass er mir nicht sagen wollte, wer denn die Glückliche, wie er sie bezeichnete, an seiner Seite sei. Er nannte mir damals einen Namen, den ich nicht kannte, sie würde nicht in dieser Stadt wohnen, er würde sie nur alle zwei Wochenenden sehen, müsste dazu zwei Stunden aufs Land fahren. Er wolle eigentlich nur eine Bettgeschichte. Ich hakte nicht weiter nach, aber wir sprachen über Fortschritte und Rückschläge, in sehr abstrakter Weise davon, welche Ziele wir uns gesteckt hatten, wie weit wir schon gekommen waren. Das bedeutete unterschiedliche Dinge bei uns beiden, wie sich herausstellte. Ich habe mich damals vor ihm geekelt, aber irgendetwas trieb mich an, das mich ihm gegenüber feststellen lassen wollte, wir, sie und ich, seien zusammen, er dagegen wollte, wiederum andere zitierend, jene nur rumkriegen, so sagte man damals. Das waren nicht nur unterschiedliche Ansichten – das war ein grosses Missverständnis.

Dranmor I,2a

(Ironie)

Eine Gelegenheit herbeiführen. War es nicht so, dass wir uns aus den Augen verloren hatten, weil keiner den Versuch unternommen hatte, eine Gelegenheit herbeizuführen. Eine Frage der Aussprache. Andere Dinge waren offensichtlich wichtiger geworden. Jeweilige Ranglisten der Wichtigkeiten, wichtige Dinge, Wichtigkeitsgeflechte, Beziehungen zwischen uns und dem, was uns notwendig erschien – war da nicht jeweils der Andere unterhalb der Priorität der Dinge, die vorrangig zu pflegen waren, vor zehn Jahren? Ein plötzliches Verstummen: Nicht plötzlich. Eine langsame Enttaktung der Treffen fand statt, immer seltener Begegnungen, am Ende: Verleugnungen am Telefon. Keiner hatte Schuld, dachte ich am Anfang, glaube ich heute. Wer damit angefangen hatte, war mir lange unklar und ist von mir heute nicht mehr auszumachen. Man sagt, etwas schlafe ein. Nicht nur ein Mensch, auch Dinge zueinander können einschlafen. In eine Schlafstarre verfallen. Bleiben sie im Innern davon unberührt? Wachen Relationen auf und alles ist, wie es vor dem Einschlafen war? Bleibt in der Erstarrung Erinnerung gespeichert? Ich zweifle daran: Der Grund des Einschlafens von Beziehungen zwischen Dingen, der Morphisierung unseres Kontaktes, ist nicht mehr präsent, so sehr ich jetzt grüble und überlege. Eine Missstimmung, eine Frequenz von aussen vielleicht, Disharmonisierung, Störung, Interferenz. Wir hatten das nicht thematisiert. Eine Frauengeschichte. Frauen? Diese Frau.

In richtigen Männerfreundschaften, schlimmes Wort, kein Thema, sollte man meinen. Wir hatten aber auch nie Männerfreundschaftsthemen besprochen, soweit ich erinnere, wir simulierten Männerfreundschaftsgespräche, stellten Dialoge nach, belauschten Männer, Jungs in unserem Alter in Kneipen, die Männerfreundschaftsthemen diskutierten, diskutierten sie weiter – bis zum Ende. Absurde Dialoge, ich weiss nun wieder, wie sehr ich, wie sehr wir beide uns amüsierten und darüber lachen mussten, am Ende.

Unser Verhältnis zu uns und zu anderen, zu allem Anderen, in diesen Momenten ein durch und durch ironisches. Vielleicht hatten wir deswegen keine Männerfreundschaft, weil diese nicht nur ironisch sein konnte.

Dranmor I,1c

(Abwärts)

Der Gang durchs Treppenhaus erinnert mich an meine Pflichten. Hier knarrt eine Stufe, dort wackelt ein Geländer, etwas Schimmel unter einem Sims. Sollte man beobachten. Übernächstes Jahr soll hier sowieso alles tapeziert werden. Der Garten, sollte noch winterfest gemacht werden, das habe aber noch Zeit, schliesslich sei erst Herbst. Es gab Fluktuation hier im Haus im Schönsteinweg. Als ich vor ein paar Wochen hier eingezogen bin, hatte sich alles im Aufbruch befunden. Die Mietparteien der zwei Stockwerke unter mir würden bald ausziehen, hatte mir die Hausverwaltung angekündigt, neue Mieter würden einziehen, man kenne sie noch nicht, erste Besichtigungstermine seien angesetzt. Ob ich mir zutraute, mich, zumindest kommissarisch, bis man eine andere Möglichkeit gefunden hatte, hier ein bisschen umzuschauen. Ein paar kleine Handgriffe zu erledigen. Wenn etwas nicht funktionieren sollte, ein bisschen Hand anzulegen, ob ich das könne? Sonst die Bitte sich einfach mit den Vermietern, der Verwaltung, eigentlich einer Institution in Italien, die ungern in Erscheinung treten möchte, in Verbindung zu setzen, wenn irgendetwas sei, man handhabe das eher unkompliziert. Ich sagte zu, auch, um meine Chancen, diese schöne Dreizimmerwohnung mit ihrem abgewetzten Parkett zu bekommen, zu erhöhen.

Im Mietvertrag stand dann: Der Mieter würde für dieses Anliegen vorübergehend die Funktion des Abwarts übernehmen. Interessanter Begriff, mein Gedanke, kannte ich bis jetzt einen Hausmeister, vielleicht noch den des Blockwarts. In mir liege nichts Meisterschaftliches, der Kalauer insgeheim. Doch ein Abwart, abwertend irgendwie, verweist ins Tiefe. Er schmeckt nach feuchten Kellerräumen, verfaultem Laub und steht für das Geräusch einer rostigen Gartenschere. Ich würde mich mit dem Wort und den damit verbundenen, kleinen Tätigkeiten anfreunden und es irgendwie richten.

Auch die anderen Mieter ein bisschen im Auge behalten. Man wolle keine lauten Partys. Wenn es Ärger gäbe, ja, man würde schon einmal nachfragen, wie es so laufe. Ruhe. Diese Strasse braucht Ruhe!

Das brauche ich auch, dachte ich, vor allem aber die Angst, nichts anderes, nichts ähnlich Schönes zu finden, in dieser Stadt, in der ich noch niemanden kannte und in der ich mich gleich als Ausländer fühlte, trieb meine Unterschrift auf das Papier.

Abwarten. Um Treppe, Wände, Simse, Garten würde ich mich die nächsten Wochen kümmern. Ich würde die Stufen beobachten, besonders der Einen genau zuhören, ob sie nicht vielleicht lauter würde, ich würde Markierungen an den Schimmelrändern platzieren und diese regelmässig vermessen, ob und wie schnell diese vom Schimmel überwunden würden. Ich würde mir bald einmal Gedanken machen, wie ich Herr über die kleinen Defekte des Hauses werden würde.

Was für ein Zufall, denke ich, als ich die Eingangstüre meiner Wohnung hinter mir schliesse, dass Roman nun in der Stadt sei. Kein Zufall, dann, denn das Gesetz lautete, dass man sich immer zwei Mal im Leben träfe. Man träfe sich immer ein zweites Mal und erzählte und redete dann von Dingen, die man in der Zwischenzeit erlebt hatte, je nach Stimmung, lässt man das eine oder andere Detail aus, um sich in dem einen oder anderen Licht zu präsentieren. Ich bin mir nun nicht mehr sicher, welche Beleuchtung ich gewählt hatte, welche Bühne ich betreten hatte, als ich vorhin mit ihm plauderte. Wir hatten uns eigentlich nichts erzählt. Das ist immer der Sinn eines ersten Treffens einer zweiten Begegnung. Zumindest hatte er nichts erzählt, von sich, etwas zu Schlussfolgerndes aus der Zwischenzeit, und ich hatte mir Mühe gegeben, ihm viel und so wenig wie möglich zu sagen, damit keine Pause entstände.

Dort ist noch eine Geschichte vor dem Beginn der Zwischenzeit. Ist sie im Keller? Muss ich wieder hinunter? Ich werfe den Schlüssel auf den Schreibtisch, setzte etwas Kaffeewasser auf und öffne die Post.

Dranmor I,1b

(Taktlos)

Was ich über mich erzählt hätte, hat er mich gefragt, bei diesem Vorstellungsgespräch – bei meiner Vita. Ja, er hat tatsächlich das Wort Vita benutzt. Nicht viel, habe ich entgegnet. Ich hätte mehrheitlich einfach geschwiegen. Ich schweige nun öfter, ich habe glücklicherweise geschwiegen. Zu oft haben andere sich schon in peinlichen Psychologisierungen versucht. Verstiegen. Ein paar Mal wurde es mir dann zu bunt und ich packte aus und fasste zusammen, immer darauf bedacht in alles Gesagte einen genügend ironischen Ton zu legen, um mich notfalls wieder zurücknehmen zu können. Dann das immergleiche Echo: Es wären Folgen einer Demütigung, mehrfacher Demütigungen gewesen, die zu dieser Ort- und Orientierungslosigkeit, ja, zu diesem entschlossenen Abstreiten von allem, was Ort sein könnte, getrieben hätten.

Die professionelle Hilfe, die ich Anfang meiner Zwanziger in Anspruch nahm, zu deren Inanspruchnahme ich gedrängt wurde, wie ich jetzt denke, – ich weiss nicht mehr, wie es damals genannt wurde – vielleicht wurde das Wort Stabilität gebraucht, und Wirklichkeit, von Wirklichkeit und Realität war eine Zeit lang die Rede, bis ich dann zum zweiten Mal aus meinem Elternhaus ausgezogen bin. Wieder in einer Nachtundnebelaktion, und damit Nacht und Nebel vorerst beendete.

Das “intakte Umfeld”, ein Begriff, der von mir immer wörtlich genommen wurde, wie der Marktplatz mit seinen mittelalterlichen Fachwerkhäuschen, und die Kirche mit der sensationellen Freitreppe. Dem Reihenendhaus mit kleinem Garten, für das sich der Vater beinahe tot geschuftet hatte. Die Mutter, die sich in und an dieser Idylle beinahe zu Tode soff, dann aber irgendwann mit einem anderen durchbrannte, die Klassenkameraden, die ich heute nur noch Schweine nenne. Der Unfall meiner Schwester. Ihr Kampf zu Tode, meine erste Toderfahrung. Hätte ich erzählen können. Teile an den Rändern der intakten Welt. Fremdkörper im Begriffsapparat derjenigen, denen ich nacheifern sollte. Bestimmt kein Einzelfall.

Intakt war das Andere – damals mit vierzehn, und schwang rhythmisch, pendelte in geregelten, in regelmässigen Abständen sich gegen mich ein – dachte ich eine Zeit lang. Die Sache mit der Klavierlehrerin (wir konnten sie uns sowieso nicht leisten). Der Ausschluss aus dem Sportverein. Ich betrachte das nun im Nachhinein als Wohltat.

Ich habe Buch geführt, habe in einem Heft zwei Spalten angelegt, die eine dann gefüllt mit Dingen, die vollständig und intakt waren, die wie selbstverständlich einen Ort hatten, über der anderen stand ICH, ein paar Dinge darunter, halbe Sätze, Wörter, die falsch geschrieben waren, auch an diese kann ich mich nicht erinnern. Das, hatte man mir geraten, sollte ich einmal in einer ruhigen Minute tun.

Der Vater dann arbeitslos, die Schulden, die betrunkene Mutter weg mit einem Brauereibesitzer, der konnte ihr wenigstens täglich fünf Biere auf den Tisch stellen.

Ein Frage der Zeit also, bis ich zu ersten Mal raus musste, aus dem Reihenendhaus mit kleinem Garten. Hinein in das besetzte Haus. Lustige Leute. Viele Partys. Die Drogen hatten mir nicht so bekommen. Das übliche, was sollte man erzählen? Auch das eine Regelmässigkeit. Das Krankenhaus. Der Entzug. Der übliche, der so als üblicher Weg gedachte Prozess – hundert Mal beschrieben. Hundert Mal scharf beobachtet und ausgeleuchtet und als symptomatisch diagnostiziert. Die Resozialisierung (heute lache ich darüber, weil sie ja eine Sozialisierung voraussetzte) – wieder bei Vater, in dieser kleinen Stadt gab es keine Möglichkeit einer alternativen Unterbringung, sollte man meinen. Wir beide sollten resozialisiert werden, gemeinsam, darum kam auch täglich Unterstützung vom Jugendamt, die uns erzählte, was nun wirklich und real, und vor allem, was als intakt zu bezeichnen sei.

Ein Ausbildungsplatz. Endlich! Alle atmeten auf. Ich würde Geld nach Hause bringen und nicht auf dumme Gedanken kommen. Ich hielt drei Jahre die Luft an. Ich war nicht der einzige. Dennoch hatte ich damals das Gefühl, eine ganze Generation hielt die Luft an, zu dieser Zeit. Auch heute der Eindruck: Eine bestimmte Generation hat drei Jahre die Luft anzuhalten. Eine Form der Normalität, die mir nicht behagte, aber, immerhin, ich biss die Zähne zusammen und zeigte, dass ich die Luft anhalten konnte, solange bis alle aufstanden und klatschten. Dafür, dass ich so lange wie vorgesehen, wie von ihnen vorgesehen und wie es einem bestimmten Bild entsprach, die Luft anhalten konnte, wurde ich belohnt.

Nachdem ich also kurz vor einer Bewusstlosigkeit und mit hochrotem Kopf wieder ein- und ausatmen durfte, und in meiner Hand ein Zeugnis zitterte, die Einsicht, dass der damalige Ort nicht mein Ort war, dass es vielleicht gar keine Orte gab. Nein, so weit war ich damals mit dreiundzwanzig wohl noch nicht, aber immerhin einsichtig genug, das Städtchen mit seinem Marktplatz, seinen Häuschen, Klassenkameraden, Eltern, wohlgesonnenen Erziehern und Psychologen und anderen Intaktheiten zu verlassen. Bei Nacht und Nebel in einem August. So hatte ich das schon mehrmals zusammengefasst. Danach musste ich immer zu lachen anfangen, und, was soll ich sagen, ich lachte aus vollem Ernst.

Ich steige aus der Tram und biege in meine Strasse ein. Adrett, die Häuschen im Schönsteinweg. Ich habe gegenüber Roman zu diesem Detail geschwiegen. Ich habe nichts verschwiegen, denn es ist nur zur Hälfte wahr. Ich stehe vor meiner Haustüre und frage mich, ob ich wieder am Anfang gelandet bin. Die Halbwahrheiten in den Wahrheiten, die alles verderben, und nichts mehr bleibt.

Dranmor I,1a

(Umzonen)

Ich wurde einmal gefragt, wie ich in diese Stadt gekommen sei. Was ich alles getan, gemacht hätte. Warum ich gerade hierher gekommen sei. Ich weiss nicht mehr genau, was ich darauf gesagt habe. Wahrscheinlich habe ich von anderen Städten geschwärmt, in denen ich gelebt hatte. Besonders von einer Stadt. Einer grösseren Stadt, die ich mir selbst ausgesucht und in der ich mich ausgesprochen wohlgefühlt hatte. Eigentlich habe ich mich in dieser Stadt gegen Ende meines Aufenthaltes kaum mehr bewegt und mich mit nur wenigem sehr zufrieden gezeigt.

Als ich hier landete, habe ich zu Anfangs sehr gerne von ihr gesprochen. Und hatte damit die hier Lebenden wahrscheinlich ein bisschen gekränkt. Dass ich nicht gelogen hatte. Dass ich nicht um Berns Willen hierher gezogen bin. Heute spreche ich nicht mehr in solchen Formeln von der Vergangenheit. Heute flüchte ich mich in abstrakte Wendungen. Windungen, die mir und anderen mein Hiersein so schonend wie möglich, das heisst ausweichend beantworten.

Heute spreche ich nicht mehr von Umzügen, Hinterherzügen oder Stadtwechseln. Heute spreche ich nicht mehr darüber, dass ich Orte verlassen habe, die ich geliebt habe und die ich nun und immer noch vermisse. Ich spreche gar nicht mehr von Orten, die in meinem Leben eine besondere Bedeutung spielen oder gespielt hatten. Jetzt spreche ich vielleicht noch von Orten, aber nur noch in übertragenem Sinne. Ich nenne sie manchmal Zonen, und meine Bewegung in diesen oder von einer zu einer anderen nenne ich Umzonung. Aber damit ist keine tatsächliche Bewegung in topographischer Hinsicht mehr gemeint – mit all ihren Verlusten. Eine Umzonung, habe ich einmal gesagt, fände nur noch in mir statt, und eigentlich wäre es nur ein anderer Begriff für Zeit. Das sei der grösste Quatsch, der jemals behauptet wurde, hatte man mir damals darauf entgegnet.