Dranmor VII,5

(Im Äusseren Stand)

Belegt bis auf den letzten Platz seien die modern-grossherrschaftlichen Räume des Restaurants Zum Äusseren Stand, teilt man mir am Haupteingang mit. In der Tat sind viele Leute, angesehene Bürger der Stadt um die üppigen Tafeln versammelt und kein Tisch mehr frei. Das Signet oder Logo des Hauses, ein wie mit Blut geschriebenes A klebt an einer halbgeklecksten, gestrichenen B-Majuskel, wie eine Warnung: Eintritt gefährlich, nur Logenmitglieder oder ähnliches – die Assoziation. Eine etwas kitschig aufgemachte Wand ist im hinteren Teil des ersten, grossen Raumes zu sehen: Kräutersträusse, ein Zierschinken, Knoblauchzöpfe zeigen an, hier wird auch nur mit Wasser gekocht.

Um die Ecke, in der Zeughaus-Passage liege das dem Restaurant angeschlossene Café, ob ich es dort einmal versuchen wolle? Ich bin mir nicht sicher, ob Roman diesen Ort gemeint hatte, als wir uns verabredeten. Gestern Abend hatte ich ihm angerufen, nach einem schlimmen Wochenende. Ich war im Zimmer auf und ab gelaufen, hatte ein eigentlich kreisrundes Muster, einen Parcour in den Teppich meines Wohnzimmers getreten – in der Mitte hatte ich ein paar Flaschen aufgestellt, die ich umkreisen wollte, bis sie verschwänden, das war, glaube ich nun, mein Ziel. Gestern war ich am späterer Mittag aufgewacht oder wieder zu mir gekommen. Ich lag vor einer blutgestreiften Wand, trockenes Blut auch auf meiner Stirn, und ich versuchte eine Rekonstruktion: Ich war wohl tangential von meinem Kreislauf abgekommen und bin gegen die Wand geprallt – das meine wahrscheinlichste Erklärung. Dann hatte ich Roman angerufen, nachdem ich erinnerte, dass er wieder zurück sein müsste. Ich konnte, ich weiss nicht mehr unter welchem Vorwand, mit ihm ein Treffen für heute verabreden.

Am Telefon klang er freudig und erholt, ja, schön, wenn wir uns mal wieder sehen könnten, wie wär’s denn morgen, er wolle mich gerne einladen, es gäbe etwas zu feiern, Überraschung, er kenne dieses Restaurant, ja morgen Mittag um vier, wenn es recht sei, also bis dann.

Ich bin wie immer zu früh, denke ich. Die Zeughaus-Passage hinein, dann gleich links das Hof-Café, so nennt es sich, vor dem Empire-Saal des Restaurants – eine billige Passagenecke, in der Passierende abgesetzt werden können, wenn sie nicht ganz der üblichen Klientel des Äusseren Standes entsprächen. Immerhin: Die Korbsessel, quadratischen Holztischplatten auf französischen Gestellen – innen wie aussen. Ein paar Tische sind noch frei – eingepfercht zwischen einem Reisebüro eines Billiganbieters, einem Schuhschnellreparateur und Schlüsselkopisten, einem Laden mit T-Shirt-Schleuderware, einem Frisör: Schnell & gut. Ich entscheide mich für einen Tisch am Rand, gleich neben einer Gruppe italienisch sprechender Rentner. Munteres Geplauder. Was ich gerne hätte? Was ich gerne hätte, die gute Frage, die, beschliesse ich, ich mir bald einmal stellen will – aber ich antworte mechanisch, nachdem ich eine Spirituose ausgeschlossen hatte, keine gute Idee an diesem Mittag in dieser Erwartung: Einen Milchkaffe, bitte, um weniger aufzufallen.

Einzelne Passanten, wenig Paare. Alleinstehende aller Altersgruppen scheinen zu dieser Zeit am häufigsten die Passage, die zwei grosse Einkaufsstrassen verknüpft, zu nutzen. Gleichmässige, schnelle Schritte auf Steinboden. Über mir ein Glasdach, ein Leinensegel versperrt den direkten Blick auf den Himmel, darunter, an einer Wand, eine moderne Photoreprographie: Anthrazit und Orange: eine Wiese, Büsche, ein Baumstamm.

Oh, ich sei schon da! Es tue ihm leid, dass wir drinnen keinen Platz mehr bekämen, aber hier sei es ja auch O.K. Ach, und dürfe er vorstellen? Nein, das müsse er nun wirklich nicht. Wir würden uns ja kennen, es sei zwar eine Ewigkeit her, aber, nun ja, wie das Leben so spiele. Sie streckt mir ihre Hand hin. Sie ist kalt. Auch etwas feucht. Ihre kalte Hand ist so feucht, weil meine es auch ist. Meine Hand ist kalt und feucht. War es ihre Hand, die ich gerade gedrückt hatte? Sie sieht hinreissend aus. Sie hat Farbe. Sie war beim Frisör.

Was ich so getrieben hätte, ob ich mit meinem kleinen Projekt weiterkäme. Sie seien zusammen im Urlaub gewesen, er hätte es mir schon noch gesagt, aber er meinte, augenblicklich … Sie mustert mich aufmerksam, während ich Fragen beantworte, mit Antworten, die ich aus Fernsehserien kenne. Ein über das andere geschlagene Bein steckt in einem hochhackigen Schuh und wippt. Schlanke, nackte Fessel. Sie hätten sich in Barcelona verlobt, wir sollten das begiessen. Drei Prosecco, Gläser klingen. Ich schlürfe, muss Geräusche machen, um dem, was ich gerade erzähle, Tiefe zu geben. Einen Grappa, ja einen Grappa, ja einen Grappa. Für euch auch? Nein? Warum denn nicht? Man muss doch so etwas feiern! Man muss doch feiern. Fei – ern! Sie beobachtet mich sonderbar. Warum schaut sie so komisch? Sie lacht doch. Ich habe wohl einen Witz gemacht. Ja, ich bin immer noch sehr witzig. Ja, ich kann immer noch sehr witzig sein. Sehr witzig, wenn es darauf ankomme. Ich witzele immer noch. Immer latent witzelnd. In meinem Gesicht sei ein Schalk eingeschrieben. Auf meiner Stirn steht: Witz.

Sie habe früher oft über mich lachen müssen. Über?. Witze sind Bauchsache, keine Kopfsache. Manchmal auch Kopfsache, aber meistens Bauch. Ich muss mich etwas nach vorne beugen, um einen plötzlichen Krampf zu kontern. Nein, es gehe mir gut. Etwas saure Flüssigkeit stösst auf. Etwas zieht sich zusammen, pulsiert. Es ist nicht das Herz, es ist das Witzzentrum. Es möchte etwas sagen.

Ich greife nach einer Serviette und presse sie vor den Mund. Süsssaure Treppenwitze. Flüsterwitze. Ihre schlanken Fesseln vibrieren. Er lacht, glaube ich zu hören, alle lachen, auch die italienischen Rentner. Dabei bin ich noch gar nicht zur Pointe gekommen. Ich springe blitzartig auf und stürze an Stühlen und Tischen vorbei ins Restaurant. Durch den Empire-Saal. Durch einen anderen, für mich noch namenlosen Saal, zum gross ausgeschriebenen Toilettenbereich. Schnell genug, um den sich füllenden, den schon zum bersten vollen Gaumen- und Rachenraum, den randvollen Mund, in dem ätzende Flüssigkeit gegen Zähne und Lippen pocht, zu entleeren.

Es spritzt auch etwas über das Becken hinaus. Galle vermute ich, braun durchzogen. Ich kenne diesen Geruch und Anblick schon. Meine Lippen möchten den geschwungenen, auf Hochglanz polierten Wasserhahn umschliessen. Ich öffne ihn, versuche mit beiden Händen Rand und Beckenfläche sauber zu spülen. Gurgeln. Gesicht, Kinn und Hals an dem automatischen, ungeduldigen Handtuchhalter zu trocknen, bereitet mir etwas Schwierigkeiten. Alles kann aber bis zu einer mir genügenden Passabilität wieder in Façon gebracht werden. Mit Haltung verlasse ich den Waschraum, gehe aber über einen anderen Saal zum Haupteingang hinaus und beschleunige.

Dranmor VII,4h

(Transfiguration)

M. Wards Album als Soundtrack zu einer Fahrt ohne Erinnerung. Visionsloser Happybeat – der erste Track. Wiederholtes Verstauen, An- und Vorrichten, Verrichten von Handgriffen, in Aktion werden sie wieder erinnert: Das sofortige Herunterklappen des Bettes, argwöhnisches Begutachten der Bettwäsche. Ich atme gründlich ein, als könnte ich fastverflogene Geruchsreste so noch aufspüren und einfangen. Dann unterbinde ich mein Schnauben wieder: Würde es einen Unterschied machen, ob sie hierin geschlafen hätten? Ob noch minimale Reste ihrer Atemluft von mir aufgesogen und als solche identifiziert würden?

Der Schaffner, mir ein bekanntes Gesicht, der wohl ewig Pendelnde, gefangen zwischen Barcelona und Bern, begrüsst mich. Ich taufe ihn: Du bist nun „Der Nämliche“. Ich kenne das Prozedere schon, den Fahrausweis, die Papiere, und verhalte mich anstandslos. Bilde mir nur ein, dass er mich tatsächlich erst in ein paar Tagen zurückerwartet hätte, so schaut er mich jetzt an. Frühstück – Morgen um halb acht. Gute Nacht.

Ich öffne eine Flasche spanischen Fusels, den ich noch für ein paar letzte Euro an einem Kiosk in der Wartehalle gekauft hatte, setze an, diesmal ohne auf einen richtigen, einen angemessenen oder bedeutenden Augenblick zu warten. Ich trinke hastig, wie ich nun immer trinke, vielleicht summe ich ein Lied dazu: I make a sad, make a sad, make a sad, sad song. Ich höre das ganze Album, dann höre ich es noch einmal.

Warten ermüdet. Problemlos schliessen sich meine Augen, dösende Anfahrt zur Schlafphase: Ein Dösen, das kein Zurück kennt. Dann eine verdeckte Brust, ein nacktes Kind, das sich nach ihr reckt und streckt, diese umkämpft. Milchverschmierte Brüste in einem Latexhöschen, das Kind plötzlich in einem dazu passenden Kostüm. I make a sad, sad song. Ich bin irgendwo, drei Menschen spazieren mit mir in einer bergigen Welt. Dort ein Ticketverkaufstand. Mein Vater sei gestorben, wird mir dort verkündet, ich müsse sofort umkehren. Man übergibt mir einen Tetrapack Milch als Reiseproviant – für den Abstieg. Nein, die Bahn könne ich nicht nehmen, sie fahre immer nur hinauf. Mir ist sehr heiss und es beginnt plötzlich zu schneien. Ein sanfter Schnee, der nicht liegen bleibt. Ich bin für dieses Wetter nicht ausgerüstet. Dann die Idee. Ich steige in meinen Rücksack und verschliesse den Reissverschluss von innen. Um zu überwintern. Ich verharre. Seide wächst aus meinen Poren, irgendwo läuft Milch aus, umfliesst mich und Gärungsgeruch steigt in meine Nase. Heiss und kalt. Ich kann nur noch mit meinem Penis atmen. Es ist zu eng hier drin, ich muss wieder hinaus. Ich kann den Rucksack nur noch mit Gewalt öffnen, zerreisse ihn beinahe, bis ein klarer Himmel zu erkennen ist. Meine Fühler suchen den Weg ins Freie, mein Körper folgt mit kleiner Verzögerung. Erst der eine, dann der andere Flügel findet Raum, sich zu entfalten. Ich pumpe Unmengen Blut in sie hinein, bis sich alles dreht. Ein leichter Wind möchte mich schon aufgrund meiner grossen Spannweite mitnehmen. Der Abflug – reine Formsache.

Ein Läuten. Das Bordtelefon. Noch eine Stunde bis zur Ankunft. Das Frühstück könne nun eingenommen werden. Ich verzichte.

Dranmor VII,4g

(Eins zu fünf)

Geschrei in der Carrer de Sant Pau. Ich habe vergessen die Balkontüre zu schliessen. Wälze mich aus dem Bett, wanke, traumlose Trunkenheit, durch den schattigen Raum hinüber zur Türe. Schon halb elf, zeigt ein Wecker. Angenehme Temperatur. Unter dem Balkon ein Streit. Ein verlebter Junge schüttelt ein Mädchen, seine Freundin, sie stösst ihn, kickt ihn mit Füssen. Eine Dose fällt zu Boden. Sie umarmen sich kurz, dann erneut: Handgemenge, Weinen. Eine Drogengeschichte den Gesichtern nach. Mir war am Vortag schon aufgefallen, dass diese Strasse direkt ins Rotlicht- und Junkiemilieu der Stadt führt, sie paradoxerweise, nein, konsequenterweise in der Luftlinie mit der Flaniermeile verband. Ich beobachte die beiden, beobachte aus dem zweiten Stock, wie Passanten die beiden beobachten, aus nächster Distanz, wie einige noch eine Steigerung der Heftigkeit ihres Streits, ihres Schlagabtauschs abwarten, um dann vielleicht doch noch einzugreifen. Aber auch: viele Neugierige. Ich ziehe mich zurück und schliesse die Türe.

Der letzte Gedanke, nach dem letzten Geräusch, gestern Nacht: Dass es hier nichts zu tun gibt. Dass ich mich heute nicht mehr bei Fernando melden würde. Dass er mich nicht nur langweilte, sondern sogar aufregte. Er würde sich sicher wundern, nicht von mir angerufen zu werden. Er konnte mich aber selbst nicht erreichen, wenn mein Handy ausgeschaltet war, so meine Überlegung. Ich beruhigte mich und schaltete das Handy ab. Wenn ich nur rechtzeitig das Hotel verliess, ein anderes nähme, oder gleich abreiste, so ungefähr der Stand der Überlegungen gestern Nacht.

Was für mich in dieser Stadt noch zu tun bleibt, scheint jetzt noch klarer, als vor meiner Abfahrt: Nichts. Ein möglicher Ort. Nun, ehemaliger Möglichkeitsort, Schauplatz, an dem es nichts mehr zu sehen gibt, soviel steht für mich jetzt fest. Nach dieser Einsicht müssen solche Plätze sofort verlassen werden. Mein Geldbeutel? Ich suche im Zimmer, im Bad, unter dem Bett danach. Er ist nicht zu finden. Er wurde mir entwendet, und mir fällt wieder das Gerangel in der Bar ein. Ich hatte glücklicherweise Ausweise und Ticket nicht bei mir, und so hält sich der Verlust in Grenzen – mein erster Gedanke. Nein, ich war pleite! Mein Zweiter. Auf dem Konto kaum einen Cent und nun kein Bargeld mehr. Erleichterung aber auch. Eine Entscheidung beflügelt sich. Ich kann nun diesen Ort verlassen, ohne an ihm Ersatzhandlungen vorzunehmen. Aber meine Rückfahrt ist laut Ticket erst in drei Tagen.

Ich habe gepackt und verlasse das Zimmer. Der Lift ist heute morgen ein anderer Raum. Putzmittelgeruch, gebrauchte Bettwäsche in einer Ecke am Boden. Ich hatte die Nacht schon im voraus bezahlt und lege kommentarlos den Zimmerschlüssel auf die Rezeptionstheke – ein mir noch unbekannter Rezeptionist ist gerade mit neuer Kundschaft beschäftigt. Ein paar Meter sind es bis zur U-Bahnstation Liceu. Wärme, fast Schwüle, steigt auf und ich verlangsame mein Tempo. Ich bemerke, wie ich mich immer noch unsicher umschaue, aus Angst, ihm nicht vielleicht doch über den Weg zu laufen. Vielleicht will er mich ja abholen, oder hatte sich schon im Hotel erkundigt, aber nein, ich hatte ihm ja meine Adresse verschwiegen. Sechs Stationen sind es von hier bis zum Sants Estació. Ich stelle mir vor, wie ich an einem Schalter auf Englisch verhandle. Warum ich jetzt schon zurückfahren müsste. Ein Trauerfall. Eine verstorbene Verwandte, besser: mein Vater wäre verunglückt, ob man nicht vielleicht eine Ausnahme machen könnte. Wie lange habe ich nicht mehr an meinen Vater gedacht? Ich würde auch eine andere Verbindung nehmen. Wenn noch etwas frei wäre. Die Türen schliessen sich. Noch sechs Stationen.

In so einem Fall wäre es kein Problem. Heute Abend um dieselbe Zeit. Es seien noch Plätze frei. Dienstags wäre nie ausgebucht. Sie würde das für mich erledigen. Nein, es täte ihr sehr leid. Das könne vorkommen. Ich könne ja nichts dafür. In solchen Fällen sei man kulant. Mein Ausweis. Mein Fahrschein. Hier sei mein neues Ticket. In sieben Stunden, also. Ich müsste mir aber schon noch etwas die Zeit vertreiben. Thank you very much. I am so grateful.

Ein Buch, eine dünne Tageszeitung sind bald zerlesen. Das Kreuzworträtsel, fast gelöst, in der Nische. Brosamen auf dem Boden zwischen den Schuhen und dem Rucksack. Ich hatte mich nicht aus der Halle bewegt. Ich starre in Buchstaben hinein, gebe ihnen neue Reihenfolgen und Bedeutungen, verfolge Reisende, dann Ziffern an der Wand, dort eine Abfahrtstafel. Fernando ist eine Geschichte. Am Rande. Roman und sie – eine andere. Aber nicht hier, nicht in dieser Halle, nicht auf jenem Gleis, das gerade ausgeschrieben wird, zu dem ich mich jetzt bewege und nicht zurückschaue. Hier gibt es keine Geschichte mehr. Hier ist Geschichte. Nur eine Rolltreppe hinunter, und dort der Wagen. Die 32, wie gehabt. Wie fast gehabt, die Aufstellung der Waggons vor der Abfahrt. Ich bin nun in ihrem Wagen gelandet. Die Wahrscheinlichkeit auch noch ihr ehemaliges Abteil zu beziehen liegt bei eins zu fünf.

Dranmor VII,4f

(Koloratur)

Es tue ihm leid. Er wusste nicht in was für einer Bar wir gelandet seien. Sie habe erst vor zwei Wochen geöffnet. Nein, es sei sicher kein Puff gewesen, er hätte mich niemals in ein Bordell geschleppt. Es war vielleicht eine Art Animierschuppen, sicherlich. Und einen darin habe er gekannt – vom sehen – der neue Besitzer. Unangenehmer Typ zwar, mache immer Ärger, aber er habe eigentlich nichts gegen ihn. Wir könnten noch woanders hingehen, er kenne ein Café, gleich hier in der Nähe, das noch offen habe. Es sei ja noch nicht einmal zwei Uhr, und morgen könne er ausschlafen.

Ich bin müde und betrunken. Mein Puls pendelt sich auf normalem Niveau ein, während wir in Richtung touristischem Zentrum, den Ramblas schlendern. Ich erzähle ihm, ich hätte für heute genug, würde ihm morgen anrufen und ihn um ein paar Ratschläge und Ideen bitten, wie ich hier die Zeit verbringen könnte, was hier zu sehen wäre. Kleinlaut. Wir verabschieden uns. Er fragt nicht einmal nach, in welchem Hotel ich wohne, was mir sehr recht ist, gibt sich zufrieden mit meiner Angabe, es liege gleich hier um den Block. Ich käme alleine dorthin, er müsse ja in eine andere Richtung und solle mich nicht mehr begleiten. Ruhe. Kaum Verkehr auf den Strassen, den Gassen in denen ich dann verschwinde. Die Gestalten, die dort noch herumtorkeln, so dunkel und zwielichtig wie ich, denke ich.

Der nimmermüde Nachtportier des Hotel Opera grüsst abwesend, erinnert meine Zimmernummer und händigt den Schlüssel ohne weiteres aus. Dort unten, in der Nähe des Aufzugs, finde ich einen Getränkeautomaten und versorge mich noch mit etwas Bier und Mineralwasser. Der Lift ist hell erleuchtet, zu hell, halogenhell. Darin ein Spiegelkabinett. Mise-en-abime meiner dürftigen Hülle. Verschwitzter Raum. Ein roter Strich, Kratzer?, Schminke?, an meinem Hals. Er lässt sich zerreiben und die Stelle nimmt wieder die Blässe seiner Umgebung ein.

Ich kann hier nicht bleiben, mein erster Gedanke, nachdem ich meine Zimmertür hier auf dem zweiten Stock hinter mir geschlossen habe. Das beste aus seiner Situation zu machen. Davon hatten wir vorhin auch gesprochen. Ein Ausblendenkönnen hat er das genannt – mir ist schleierhaft, wie Fernando, nachdem ich ihm die Sache mit Roman und ihr in kurzen Zügen geschildert hatte, abbügeln wollte. So einer war er: ein Ausblendenkönner. Und er, der Schmid, was weiss er denn schon über ihn. Der Schmid damals in Paris. Gut, ich habe selbst das Thema auf den Tisch gebracht, habe eine Analogie aufgestellt zu diesem Toten, der immer versucht hatte, das beste daraus zu machen und dann zu scheitern. Seine Pariser Zeit, er hat es sich sicher gut gehen lassen, aber unter welchen Vorraussetzungen? Bei allem, was ich weiss, nein, es war eine andere Zeit, er hatte niemals etwas ausgeblendet, hatte sich regelrecht verstiegen in seine damalige Herzensangelegenheit. Und die leichten Mädchen – es war wie gesagt eine andere Zeit. Ich öffne ein Bier und leere es in einem Zug. Es ist mir völlig gleichgültig, wie es der Schmid gemacht hätte oder hatte. Ich habe genug und sehne mich nach meiner dunklen Zweizimmerwohnung mit schlechtfunktionierender Heizung und stinkender Küche. Ich entkleide mich bis auf die Unterhose und werfe mich auf das quietschende Bett.

Gegenüber knallt ein Korken. Die Schauspieler und Sänger der Oper in deren Schatten mein Zimmer liegt, haben noch etwas zu feiern. Eine Première vielleicht. Oder eine Dernière. Ich höre noch ein Lachen, eine Koloratur, einen Bass.

Dranmor VII,4e

(Dance with me)

Es ist, als würde alles zu tanzen beginnen. Fernando entschuldigte sich, ging an der Bar entlang, verfolgt von neugierigen Blicken, zum Ende des Raumes, ein Tunnel, ein Korridor mit dem Namen Servicio. Ein Tanz, in meinem Magen, meinem Kopf – Trommeln und Backbeats. Mehr Frauen lösen sich zu einem Hit aus Sitzmuscheln und von klebrigen Barhockern, beginnen mit den anderen auf der kleinen Fläche links von unserem Tisch zu tanzen. Die Jungmännergruppe feixt, als sich nun auch die Barkeeperin zu ihnen gesellt. Ein Tableau, gespiegeltes Bühnenritual sich expressiv bewegender Mädchen, jetzt, wie ich sehe, die Blicke im Ensemble auf die Spiegelwand gerichtet, sich selbst beobachtend – und mir im Wechsel geradewegs in die Augen starrend.

Der letzte Mojito macht sich auf ungute Weise bemerkbar. Süsssaures Aufstossen. Hopfenreste. Die Szene taucht sich in weiches Dunkelrot, eines meiner Beine wippt nervös dazu. Ich frage mich, wo Fernando so lange bleibt, überlege, ob ich ihm nicht nachfolgen, nach dem rechten sehen soll, will gerade aufstehen. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Dance with me. Das in meinen Augen unansehnlichste Mädchen hat unter dem Lächeln der anderen schon neben mir Platz genommen. Ich weiche ihrem Blick, ihren Blicken aus, greife ungeschickt zu den Nüssen. Sie streicht mit ihrer Hand entlang meiner Schulter, meines Nackens, durch das Haar, über das Gesicht. Ein Finger möchte sich in meinen Mund bohren, streicht schon an einer Backeninnenseite und beginnt zwischen Zähnen und Zunge zu wühlen. Ich beisse sanft zu, bis er sich wieder zurückzieht. Ich kann in ihrem Ausdruck einen kleinen Schmerz erkennen. Eine Frage. Spiel?

Sie setzt sich umständlich auf meinen Schoss. Sie ist schwer und ich muss mich zusammenreissen, balancieren, dass wir nicht beide das Gleichgewicht verlieren und von dem Hocker fallen. Irgendetwas wird in mein Ohr geflüstert, ich kann ein Zuviel an Haarspray an ihr riechen. Eine Hand wandert an meinen Schritt. What`s up? Don`t you want to fuck?. Nein, ich will nicht. We just came in here to drink a beer. I am sorry. Woher ich sei? Nein, meine Heimatstadt interessiert sie nicht wirklich. Auch nicht die weltweit bekannte Kirche, von der sie aber schon gehört habe. Sie unternimmt einen weiteren Versuch. Presst meinen Kopf mit beiden Händen in einem Moment, als mein Oberkörper wieder etwas Spannung abbaut, an ihre Brüste. Weiche Haut, billiges Parfum – eine Schnalle ihres Oberteils reibt an meinen Wangenknochen. Ich muss husten. Körperspannung baut sich wieder auf. Sie reagiert sofort, drückt mich wieder von sich weg. Ich versuche das Missverständnis endgültig aufzuklären, da erscheint Fernando wieder an unserem Tisch. Eine Diskussion zwischen ihm und ihr entsteht, ich kann leider nichts verstehen. Sie wird lauter, flucht offensichtlich. Zwei der Jungen des Nachbartischs, die die Szene beobachtet haben, wie es scheint, erheben sich, bewegen sich in Richtung unseres Tisches. Ich soll fünfzig Euro auf den Tisch legen, zischt mich Fernando in einem Nebensatz an, immer noch hitzig mit ihr Verhandlungen führend. Ich tue, wie mir geheissen. Das Interesse an uns hat mittlerweile die ganze Bar erreicht. Wir sind umringt. Mädchen. Die Grimmigsten der jungen Männer. Berührungen, die sich bis zum Gezerre steigern. Wir werden in Richtung Eingang geschoben und gedrängt. Jemand macht sich an meiner Jacke, an meinen Haaren zu schaffen. Fernando bekommt eine Ohrfeige von einer Hand aus der Menge. Die Tür öffnet sich und unter lautem Geschrei werden wir auf die Strasse befördert.