Dranmor IV,1w

(Aus einer Email von Roman)

(…) Hej, unten ein Ausschnitt aus einer längeren Szene um eine Dranmorvariation. Was meinst Du? Bis bald. R

Eddi is noch nich soweit

Nach Dranmor nach Alfred Tennysons Edward Gray

emma moreland und edward gray treffen sich auf der strasse

EMMA:

hej eddi, alles klar? lange nicht gesehn. und, schon unter der haube, oder solln wir uns mal wieder treffen?

EDWARD (nasal und mit verheulten augen):

hej emma, gut schaust aus. aber beziehungsmässig. nee du. schlimme sache. da geht bei mir gerade gar nichts.

kannst dich noch an elli erinnern? lief ja echt gut. aber dann der stress mit ihren alten. na ja, ich komm grad vom friedhof. (fröstelt). ganz schön zugig da oben.

EMMA:

is was passiert?

EDWARD:

ich dachte damals, die wollte mich verarschen, und dann bin ich halt abgehaun. ganz schön blöd von mir. dabei war sie nur total verschüchtert. und jetzt isse tot. ich geb dauernd mir die schuld.

ich idiot! was ich der alles an den kopf geworfen hab, sie sei zu tussig und weiss nich was sie will, auf jeden fall, könnte sies so vergessen.

na ja, und jetzt da oben hat`s mich wieder voll erwischt. so ne scheisse! ungelogen, das tut mir jetzt alles so leid. oh, mann, elli.

ich hab was in sonen moosigen stein geritzt.

„hier liegt elli und mein herz gleich daneben“, hab ich geschrieben. n bisschen kitschig, ich weiss.

ich hab noch gedacht, das geht wieder, irgendwann, ich lern schon noch mal jemand kennen. aber, ichweissauchnich, ich kannse einfach nich vergessen.

(murmelt, wendet sich ab) einfach so dagelegen und geheult.

hier liegt elli und mein herz gleich daneben. ich weiss auch nich. (geht ab) (…)

Dranmor VII,2

(Heimweh)

Eine durchlöcherte Plastikkarte ist aus einem Schlitz auf Klinkenhöhe der Abteiltüre zu ziehen, um von innen schliessen zu können. Unzählige Löcher, zusammen, eine geheime Botschaft. Eine Ziffer? Ein Buchstabe? Meine Finger gleiten darüber, wie über eine Blindenschrift, die aber, nicht erhaben, eher einer Tiefdruck-Vorlage gemäss, zu übertragende Bedeutung nicht auf, sondern in dem Medium birgt. Fingernägel streichen, kratzen nun an den unebenen, ausgelassenen Stellen; es entsteht ein Geräusch – ich kann einen Rhythmus erzeugen.

Eng ist es hier, in dieser kleinen Kajüte. Eine Stockbettinstallation, schon aus der Wand gelassen, frisches Bettzeug, Glätte, Bonbons auf Kopfkissen, linker Hand. Ich habe das Abteil für mich, hatte man mir gesagt, kann nun also aussuchen, ob ich oben oder unten schlafen will, entscheide mich für unten. Der Rucksack fliegt in eine Nische, rechts, unter einer kleinen Anrichte mit verdecktem Waschbecken. Ein Piktogramm. Kein Trinkwasser. In einem Spiegelkästchen darüber finde ich eine kleine Flasche Wasser, Plastikbecher, Dinge in Plastiktüten eingeschweisst. Ich nehme einen Becher, schliesse den Kasten und hole einen Schlaftrunk aus meinem Rucksack.

Probeliegen. Draussen in der Dunkelheit rast die Welt vorbei. Bahnhöfe, Ortschaften in der Nähe, müde Städte, irgendwo entlang der Strecke, aus der Perspektive der Pritsche von schräg unten nach aussen sind nur Dinge in Hanglagen erkennbar. Schräger Umzug der schläfrigen Welt vor meinem neuen rollenden Heim. Interim. Angenehm das Wackeln in Wellen, ab und zu ein Geräusch, ein Stein vielleicht, der aussen an Wand oder Fenster spritzt. Es gibt nicht wirklich einen Ort der Sehnsucht, von mir als solchen begriffen, möchte ich jetzt sagen, als ob ich Zuhörer erwartete. Ich bin vielleicht schon immer in einem Schlafwagen gelegen, alleine, und habe aus dem Fenster gestarrt, von schräg unten nach aussen. Wäre diese Vorstellung so schlimm? Im Nachhinein sich so zu begreifen? Eigentlich kenne ich nur Leute, die, wenn sie nicht dort sind, wo sie gerne wären, sich als prinzipiell deplaziert bezeichneten. Eine Frage der Prinzipien, letztendlich, eine Frage der Ausrichtung und Errichtung möglicher Traumlandschaften. Der Einteilung von Kälte- und Wärmezonen. Alles bei mir ohne Wechseltemperatur, innen wie aussen, darum kein Ort, keine Orte, die mir jetzt einfielen, wohin ich gehörte, ein rollbarer, ein mobiler Ort vielleicht. Ein Schlafwagen. Helle Streifen hinter Fenstern, das schnelle Aufleuchten, die Verdunklungen, Filmstreifen ohne Handlungen. Aber gleichmässig kühl. Mich fröstelt ein wenig. Ich schalte die Klimaanlage aus und krieche unter die Decke. Gute Nacht, sage ich halblaut, und ich meine es ehrlich.

Dranmor VII,2a

(Das Kind)

Es klopft an der Tür. Viertel vor Acht. Ich öffne das Schloss und entsichere die zusätzliche Sperrautomatik des Kabuffs. Der Schaffner, er versucht es auf Französisch, nachdem er merkt, dass ich kein Spanisch spreche. Ich habe mein Frühstück versäumt, er habe schon vor einer Stunde versucht, mich zu wecken. Wir werden das Estación de França in wenigen Minuten erreichen. Böser Blick. Ich entschuldige mich umständlich. Noch ein, zwei Augenblicke also bis zur Einfahrt. Ich beeile mich, räume das wenige Ausgepackte zusammen und stopfe es in meinen Rucksack, meinem einzigen Gepäckstück. Schon seit einer Stunde im halbwachen Zustand das Abwiegen und Durchrechnen, das Entwerfen von Szenarien, wie ich sie und Roman bei der Ankunft aus gesicherter Distanz beobachten, abfangen, mich an ihre Fersen heften könnte. Ich war doch wach? Erneute Zweifel, was hier zu tun sei, was ich mir davon verspräche, wie ein eifersüchtiger Ehemann einem heimlichen Liebespaar nachzufolgen, konnte ich doch erfolgreich zerstreuen. Entschleunigung. Ich spreche seltsame Wörter aus, um zu hören, wie sie klingen. Erhellung, Skandalisierung einer nicht mehr vorhandenen Beziehung, Vergewisserung. Ekel. Wörter für pathetische Schleifen, aber keine für den Urlaub: Dass dies aber kein Urlaub sei, eine Reise eher, die Suche, eine Sucht nach Entscheidungsstoffen, Richtungsvorgaben, die ich selber nicht mehr setzen kann. Traurige Analyse schäbiger Wörter. Ich überprüfe meinen Rucksack ein letztes Mal auf Vollständigkeit, drehe und wende die Stoffdecke auf dem Klappbett, schaue in dem kleinen Spiegelschränkchen nach Hinterlassenschaften und packe auch noch ein in Plastik verpacktes Reisenecessaire mit Waschlappen, von mir unbenutzt, ein. Vielleicht werde ich es noch benötigen. Wir befinden uns unmittelbar vor der unterirdischen Einfahrt in die Station. Bremsen quietschen eisern, Lichter gehen auf dem Gang an, die Bahnsteige, wie U-Bahnhöfe. Ich will den Zug wieder dort verlassen, wo ich eingestiegen war – die beiden würden sicher wieder ihren Ausstieg benutzen. Stillstand. In einem kleinen Stau, einer Menschenschlange am Eingang, ich beginne zu schwitzen. Ein Hitzeimpuls, als sich die Schwenktüre des Zuges öffnet und die Leute hinausströmen. Umständlich, eckig, mit all ihrem Gepäck, das verkantet und nie auf das erste Mal durch die Türe passen will. Ich überspringe eine Trittstufe, lande sicher im Gewühl, ein Körper fängt mich auf, sofort richte ich den Blick auf den Nachbarwagen. Sie zu verpassen würde das Hauptziel der Reise schon zu Anfang verfehlen. Auch hier Säulen, hinter denen ich mich verstecken kann, aber im Strom der Reisenden, umständlich, sperrig, ich werde gestossen und gedrückt.

Sie steigen aus, ich kann Roman beobachten, wie er erst ihr Gepäck entgegennimmt, dann ihr beim Ausstieg behilflich ist. Ein Händehalten an der Bahnsteigkante, verliebte, glückliche Augenkontakte. Die zwei Koffer, zwei Rucksäcke sind aus einer Kollektion, wie ich jetzt erst bemerke. Sie werden von dem Menschenstrom aufgenommen und zur Rolltreppe getragen. Fast automatisch setze ich meine Sonnenbrille auf und folge im Abstand von zehn, fünfzehn Metern, immer etwas geduckt, werde nach oben befördert, hinter ihnen, ihr Blick nach oben gerichtet. Die Rolltreppe mündet in eine freundliche, hell erleuchtete Wartehalle, mit all ihren fremden Sprachen, blendend; oben angekommen versuche ich mich an bekannten Strukturen und Symbolen zu orientieren. Vor allem an ihnen. Zwei Augenpaare mit synchronisierter Zieleinstellung, suchen nach etwas Bestimmtem. Werden sie erwartet?

Kein Informationsstand, keine Anhaltspunkte erster Orientierung, nein, hier kennen sie sich aus. Dann, ihre Koffer fallen zu Boden, Hände schnellen zu Grüssen in die Luft – sie haben jemanden gesehen. Ein ungleiches Paar bewegt sich auf sie zu, beschleunigt. Ein Kind löst sich von der Hand einer Frau und rennt auf die beiden zu, steuert sie an, springt an ihr hoch und umarmt sie, umgreift ihren Hals. Die andere junge Frau, in ihrem Alter, ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, das also muss ihre Schwester sein, begrüsst die beiden. Eine Kleinfamilie formiert sich, ein unerwarteter Kern. Ist es denn möglich? Konnte es denn wirklich sein, dass das Kind ihres ist? So mütterlich, wie sie es berührt und umfasst? Das ungefähr zehnjährige Mädchen. Unmöglich, dass sie das Kind behalten hatte. Ich folge ihnen in angemessener Distanz auf den Vorplatz, dort bewegen sie sich in Richtung eines Taxistands. Hatte sie mir all die Jahre die Existenz dieses Kindes vorenthalten? Eines Kindes, dessen Vater ich möglicherweise war? Sie beladen ein Taxi mit ihrem Gepäck, steigen ein und fahren los.

Ich bleibe konsterniert zurück. Etwas Stoff, ein Kleidungsteil verfängt sich an meinem rechten Schuh, nimmt für kurze Zeit meine Aufmerksamkeit in Beschlag. Ich schüttle es ab. Zurück bleibt ein dunkler Fleck. Ich fahre in Hosen- und Jackentaschen, um nach einem Taschentuch zu fahnden, werde schliesslich fündig. Beim Herunterbeugen weicht ein Bein aus, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Mir wird etwas schwindelig und ich muss mich wieder aufrichten. Die Füsse tragen weg, um ein Einsacken zu verhindern, dem Sonnenstand entsprechend nach Osten. Häuser. Eine Zeile erst, dann zwei, drängen sich mir auf.

Dranmor VII,1a

(Drei Klänge)

Drei Klänge nacheinander, die zu einem Akkord verschmelzen. Diskord in meinen Ohren, nicht eines Missklangs wegen – der wäre mathematisch unhaltbar. Dreifacher Anschlag, reaktiv, raumgreifender Teppich – nur Einleitung, nicht Stück, ungehaltenes Versprechen einer heimeligen Couch, aber: Türöffner einer Information, obwohl ich sie benötige. Ich bin auf dem richtigen Gleis, zur rechten Zeit. Dem Vorhaben nach. Welchem?

Ich bilanziere. Im Nachhinein – sicherlich eine irrsinnige Idee, den beiden nachzufahren, zu denken, mit ihnen mitfahren zu können, mitzuhalten, neben ihnen, unbemerkt. Agentisch. Roman vor zwei Wochen soweit auszufragen, kaltschnäuzig, wohin und mit wem er fortfahre, warum er ein paar Tage, eine Woche frei nahm. Wohin? Er antwortete, er würde Freunde besuchen in Barcelona und ich denke, er hat noch immer keinen Verdacht geschöpft. Ich wusste aber zu diesem Zeitpunkt sofort, dass er mit ihr dorthin fahren wollte, mit wem sonst, schliesslich lebte sie da seit geraumer Zeit, auch das habe ich mittlerweile herausbekommen. Es war ganz einfach: Ihren Namen in eine Suchmaschine einzugeben und zuoberst der Verweis auf sie, Organisationspsychologin in einem grossen Unternehmen in Barcelona, es konnte sich nur um sie handeln. Freimütig erzählte er mir, dass er sich etwas gönnen wolle, dass er den Euronightzug am heutigen Sonntag nehmen würde, ein Hotelzug mit allem Pipapo, um entspannt am anderen Tag dort anzukommen. Dann meine Recherchen, zuerst spasseshalber, was es denn kosten würde, jenseits meines Budgets, eine Woche später aber, ein Sonderangebot – wegen geringer Auslastung, wenn man sofort buche … es lag für mich im Bereich des geradenoch Erschwinglichen.

Wie naiv, wie einfach ich mir das vorstellte. Wenn es dort nichts zu sehen gäbe, wenn ich der Verfolgung der beiden überdrüssig geworden wäre – es gäbe dort ja noch Fernando, den ehemaligen, den eher geduldeten als geliebten Kommilitonen, den ich eigentlich nicht mochte, Langweiler, zu dem ich keinen Kontakt ausser dem Verschicken einer jährlichen Neujahrskarte mehr unterhielt, der mir aber immer wieder das Angebot unterbreitete, ihn zu besuchen. Ihm dann zu schreiben, ob er in besagtem Zeitraum Zeit hätte und er dies umgehend und freudig bejahte und mich beinahe drängte, mich dazu zu entscheiden, er würde mich gerne sehen. Eine Verschränkung glücklicher Umstände, oder waren es unglückliche, die zu der Entscheidung bewogen: Ein Hin und Zurück, eine Woche Aufenthalt, vielleicht täte mir das gut. Ja, alles wurde bestätigt: Die Buchung des Tickets, und ja, Fernando könne mir ein billiges Hotel empfehlen, obwohl er mich eigentlich zu sich eingeladen hätte, aber wenn ich unbedingt wolle … die Unabhängigkeit. Das alles hinter dem Rücken Romans, das alles ohne irgendwelche Konsequenzen zu bedenken, konsequent phantastisch, planlos, ohne überhaupt einem ernstzunehmenden Gedanken darüber zu verschwenden, was dort zu tun sei. Im Nachhinein.

Drei Klänge verebben um Viertel nach Neun und ich schleiche auf dem Bahnsteig herum. Es ist kalt, was mir entgegenkommt. Ich ziehe eine Mütze tief ins Gesicht. Ich erwarte weniger den Zug, als die Ankunft von ihm und ihr, drücke mich an und hinter einer Informationssäule herum, schutzsuchend, bereit jeden Moment in Deckung zu gehen – sehe die beiden schliesslich die holprige Gepäckauffahrt heraufkommen, bester Dinge. Mittelgrosses Geschütz: zwei Rollkoffer, zwei Rucksäcke, eine Handtasche. Sie bewegen sich in Richtung Sektion A: Der Sektion mit den Wagennummern 31 und 32. Meiner Sektion. Ich erwartete bei diesem Part Komplikationen, ahnte vorzeitige Entdeckung, doch noch bevor ich mich nach einem anderen möglichen Einstieg umschauen kann, fährt der Zug ein, fünf Minuten zu früh – mir würde genug Zeit bleiben, zu beobachten, wo sie einsteigen würden, welches Abteil sie nähmen, und mir dann meines zu suchen, mich dort schlussendlich ruhig zu verhalten. Nur wenige Reisende steigen zu. Ein Schaffner versucht sich persönlich um jeden einzelnen zu kümmern. Nun führt er ein Gespräch mit Roman, hilft den beiden beim Einstieg, schultert etwas Gepäck von ihr und bringt sie, soviel ist durch das halbverspiegelte Fenster zu sehen in ein Schlafabteil des Wagens 32. Ich versichere mich noch einmal meiner Wagennummer, 31, löse mich unbemerkt aus dem Schatten der Säule und verschwinde über einen Einstieg weiter vorne in meinen Wagen, mein ausgeschriebenes Abteil.

Dranmor VII,4b

(Reviere)

Das Verdrängen verlängern, um es zu verlagern. Warum sich also nicht zerstreuen. Überhaupt: Zerstreuen. An etwas anderes denken, um an nichts denken. Alle zu besuchenden Dinge, alle Orte, vor denen man sich photographieren liesse – Zerstreuungsorte? Orte, an denen man ist, neben etwas bekanntem, ICH vielleicht im Mittelpunkt der Anordnung, wichtig aber erst durch das Ornament. Ich und sein Ornament, aber wo die Orte? Der Reiseführer befiehlt in dieser Zeit, die es zu überbrücken gilt, Dinge zu tun, die, wäre man bei sich selbst, man nie tun würde. Das Textilmuseum wird schon wegen seines sensationellen Cafés gerühmt, ist also berüchtigt, heute aber leider geschlossen, muss ich feststellen, nach einem orientierungslosen Marsch, und dann doch der Blick in das Hochglanzheft. Enttäuschte Gesichter auch gegenüber, dort die Picassopilgerstätte. Das Aussen des Bauwerks, Kerkerstein, romantischer Schreibort eigentlich, aber verschlossen, ich streune weiter, zurück durch das Viertel, das Ribera genannt wird.

Das Frühstück, merke ich jetzt, war nicht nachhaltig, der Kaffee dünn und eine Wiederholung notwendig. Hier aber, kein Viertel der Strassencafés, ich habe Mühe, ein kleines Restaurant zu finden, aussen bestuhlt – dann aber, das Casa Paco.

Dort sitzen ein paar Künstler herum. Einer, ein Bärtiger wird gerade von einem Glattrasierten interviewt, ein Tonbandgerät ist vor ihm, auf einem runden Eisentischchen aufgebaut. Er plaudert legère. Neben ihrem Tisch, ein eingezäunter Kinderspielplatz – aber keine spielenden Kinder darin. Ein Taubentreffpunkt – el Dorado, geschützt vor Mensch und Hund. Ein Schwarm, aufgeschreckt von einem plötzlichen Krachen, Baulärm aus der Nachbargasse, flattert auf und davon. Hundertfacher Flügelschlag, dann kehrt wieder Ruhe ein.

Der Interviewte, nach einem Stocken, setzt seinen Satz fort. Mir wird Kaffee gebracht – ebenfalls Spülwasser, wie sich schon am Geruch feststellen lässt, dazu wird ein Apfelmuffin gereicht, ganz wie es das Angebot auf der Estrella-Damm-Tafel aufführte. Der Kuchen ist ausgezeichnet, versöhnt. Ein Hund, eine Promenadenmischung verirrt sich ins Innere des Casa Paco. Nieselregen setzt ein. Ich bezahle und gehe.

An einem Haus in der Nähe muss ich stoppen. Kein Haus mehr, nur noch Fassade, auf den zweiten Blick – die Malereien, Verzierungen daran aber immer noch sehr präsent. Jugendstil, alt, schmutzig, abgetragen. Die Fassade wird von Trägern und Streben gestützt. Die Fenster, Löcher, in die hinein, aus denen heraus, in das innere, das äussere, nämlich der graue Himmel, geschaut wird. Ich kann diese Mauerfront umkreisen, will auf die Rückseite dieser, wie durchschossenen Mauer, dort, das gleiche Bild – eingerahmt mit Schutt und Maschinen.

Signifikante Übergänge. Im Garcia-Viertel ist es mit dem Englischen vorbei. Das Bestellen einfacher Speisen am Placa del Sol, besser gesagt im bestuhlten Bereich des Sol de Nit, gestaltet sich schwierig, misslingt. Das Menu: ein grüner Salat, ein Bier, ein Toast mit Camembert, ist zufriedenstellend, war aber anders intendiert. Mein Reiseführer hatte so sehr das Cafe del Sol angepriesen. Ein ruhiger Platz, angenehme Atmosphäre, Nachdenken, Schauen. Dort träfen sich die jungen linken Leute der Stadt und hielten ihr Schwätzchen, doch heute wohl Ruhetag. Wenigstens regnete es nicht mehr, der Platz ist trocken und zwei junge Hunde balgen sich, nicht weit von meinem Tisch, in einer Ecke des Carées, einer betonierten Plattform, die wohl Markt, Spielplatz und vieles andere ist; dort, auch eine Bodeninschrift. Ich kann sie aus dieser Entfernung nicht entziffern, hätte sie ohnehin nicht verstanden, wahrscheinlich aber jene berühmte Inschrift aus den achtziger Jahren, wie mein Reiseführer angibt: „Dieser Platz ist 24 Stunden geöffnet“. international sponti.

Was zusammenbestellt wurde, ist hastig gelöscht, irritiert von den Hunden, die ihr Spiel langweilte, die ein Mittagessen, ein Abendessen, eine Zwischenmahlzeit wittern. Kein Mensch scheint sich für sie zuständig zu fühlen, ich muss sie mit den Füssen davon abhalten, mich anzuspringen, auf den Tisch zu springen und mir das Essen zu stehlen. Einer missversteht mich als Artgenossen und versucht mein Bein zu kopulieren. Ich gebe ihm einen Tritt. Die Sonne durchbricht den faden Himmel – unmittelbar und heftig. Ich muss meinen Tisch verlassen, ein Schweissausbruch bahnt sich an – ich bin zu warm angezogen. Zwei Tische weiter, unter einem Baum, neben einem etwas verwahrlosten Mann ist Platz. Ich schlendere hinüber, mit fragender Geste, der nickt und wendet sich ab – ich lasse mich nieder. Nein, ich gehöre nicht hierhin, man macht daraus kein Geheimnis, ich kann es niemandem verdenken. Verachtung. Oder: Vielleicht hat er auch besseres zu tun. Eine jüngere, doch sehr verlebt ausschauende Frau mit Kopftuch und losem Mundwerk, ja, sicherlich gut zwanzig Jahre jünger als er, passiert uns, grüsst ihn, setzt sich auf seinen Schoss, umarmt ihn. Er gibt ein paar Zärtlichkeiten zurück, dann spuckt er schleimigen Kautabak auf den Boden. Ich muss etwas würgen. Verlagere meine Blickrichtung, um nicht auf sein Ausgekotztes starren zu müssen, über Tische, Stühle, ins Unbestimmte.

Adrenalin. Jenseits der Tischreihen, zwischen Rand und Mitte des Platzes, grosses Gebell. Ein junger Schäferhund und ein Pitbull haben sich ineinander verkeilt. Schon sieht man Blut – dunkles, dünnes Rinnsal. Jaulen. Eine Szene aus Amores Perros kommt mir schlagartig in den Sinn. Hier aber: nichts Organisiertes. Der Pitbull, so ist den ringsum entsetzten Blicken anzusehen, hatte sich ohne Vorwarnung über den Hund eines Punks hergemacht. Ein Teil des Ohres liegt auf dem Boden, meine ich. Einer hebt es auf, wickelt es in ein Stück Stoff. Speichelfäden. Hundeköpfe, in rasendem Eifer, schütteln sich, zerren aneinander. Schnell bildet sich ein kleiner Zuschauerkreis. Der Schäferhund jault erbärmlich. Mitleid und Ohnmacht der Beobachter. Die Besitzer versuchen die Hunde voneinander zu trennen. Vergeblich. Der Pitbull hat es nun auf das andere Ohr seines Kontrahenten abgesehen. Der kann ein Stück Hals erwischen. Mehr Blut. Ein Zuschauer tränkt einen Streifen Papier mit Feuerzeugbenzin, entzündet ihn, will damit Aufmerksamkeit umlenken, schlichten, doch der Pitbullbesitzer hält ihn zurück, nimmt eine Eisenkette, ungenutzte Leine, schlingt es um den Hals seines Tieres und zieht zu.

Das Tier gibt auf. Die Hunde lösen sich voneinander, werden schnell separiert, und man geht seiner Wege. Ich bestelle noch ein Bier, zittere ein wenig.