Dranmor X,1a

(Aus den Aufzeichnungen III)

1883

Alles rächt sich schon in der irdischen Heimath … Was ist jetzt noch zu erhoffen? Wir sagen; Nichts, absolut nichts … Und die Tage gehen herum, und nicht immer leuchtet ein freundlicher Stern über den Saumseligen. Auf der Flucht aus dem brennenden Sodom sah Lot`s Weib hinter sich, und ward zur Salzsäule … Unbehagen überall … Überall Unbehagen, Unsicherheit und starre Gleichgültigkeit. Nur den Tagesfragen, und seien sie der frivolsten Natur, wird Aufmerksamkeit gezollt … Ein Vierteljahrhundert ist verstrichen, seitdem der Verfasser dieser Skizzen, von Geburt ein Schweizer, auf einer stillen “Nachtwache” unter den Leuchten des südlichen Himmels von “deutschen Colonien” schwärmte “wo die deutsche Flagge weht”, und sich ihm ein neues Reich offenbarte, “in dessen Grenzen nie die Sonne untergeht”. Jetzt sind seine Nachtwachen nüchterner Art, und an Visionen glaubt er nicht mehr.

Dranmor V,5

(In der Bibliothek I)

In der Bibliothek. Durch ein Bücherregal hindurchschauen. Zwischen Buchoberkanten und Regalunterseiten ist etwas Raum und dahinter der um diese Tageszeit nicht stark belegte Lesesaal gut überschaubar, und ein günstiger Platz schnell gefunden. Ich vergrabe mich hinter einer breiten Betonsäule und klappe meinen Laptop auf, schliesse ihn an der Steckdose an. Mache mich zu schaffen. Das schlechte Gewissen bei der Exzerpierung. Erst die Freude gestern, doch noch ein paar persönlichere Texte aus Dranmors Leben gefunden zu haben. Vermeintlich autobiographische Spuren, die sich in seinen Auslandsjahren angesammelt hatten, die sich mit in seine journalistischen Skizzen hineingeschrieben hatten, etwa in seiner Abhandlung über den “Handel und Wandel in Brasilien” – später dann in den weitaus resignativeren “Rückblick auf verunglückte Colonisationsversuche”, wie ich vermutete, in einem auf seine Persönlichkeit lesbares Wirtschaftsjournal, das ich gehoben hatte, wie ich denke, und dessen Existenz ich um jeden Preis verbergen will, ausschlachten will ohne Romans Wissen darüber, ohne selbst zu wissen, ob dies tatsächlich möglich war. Die Freude über diesen Fund und nun ein Gefühl der Inkriminierung, der flaue Magen, als stünde ich kurz vor einem Ladendiebstahl.

Ich weiss, Roman hatte mir schon viele Dinge verschwiegen, verschweigt mir immer wieder Dinge und hat dabei nicht die Spur eines schlechten Gewissens, sah in der Zurückhaltung von Dingen keine Beugung seiner Ethik der Sportlichkeit, wie er es einmal nannte. Und meine Wut darüber, nicht so sein zu können wie er, nicht aus meiner Sicht Unrechtmässiges ausblenden zu können, schon immer. Mit der Wimper zu zucken, zucken zu müssen wie bei einem Tick. Sagen zu müssen, das wäre immer schon so gewesen und dies als einzigen Trost gelten zu lassen.

Ich ziehe den Kopf ein, schrumpfe, denke ich, als das Bibliothekspersonal an mir vorbeigeht und in irgendwelchen Schubladen Zeitschriften sortiert und wieder an mir, hinter mir vorbeihuscht und mir über den Rücken schauen will. Ich beuge mich über den Tisch, über Bücher und Blätter. Und mich neugierig mustert, was ich wohl mit diesen alten Heften wolle, die auseinanderzufallen drohen, die auf speziellen Schaumgummiblöcken ruhen sollten, damit der Buchrücken nicht bräche, man würde sie mir an den Tisch bringen. Was ich mit diesen Schriften, die seit langer Zeit nicht mehr gelesen wurden und denen auch seit langer Zeit kein Forschungsinteresse entgegengebracht wurde, die ausgeforscht waren, die nutzlos seien, was ich mit diesen wohl anstellte, würden sie wohl denken.

(…)

Dranmor VI,2a

(An der Zytglogge)

Der Himmel hängt tief und der bis in die Unterstadt drückende Nebel verdichtet sich, geht erst in einen dünnfadigen, dann dauerhaften Regen über. Die wenigen Erledigungen sind gemacht, konnten alle in der neu eröffneten Filiale des hiesigen Kaufhauskonzerns getätigt werden. Das Bier, Averna, eine Pizza, ein Fertigmenue für die Pfanne, Nasi Goreng in drei Minuten. Druckerpapier, einen Beutel Tabak, Blättchen, Drehfilter und etwas Joghurt. Mehr gab der Geldbeutel nicht her.

Ich kann die Strasse überqueren ohne nass zu werden, ohne den Schirm aufspannen zu müssen erreiche ich die engen Arkaden der gegenüberliegenden Seite, mit den kleinen Läden. Der Uhrmacher. Die Floristin, die bei jedem Wetter vor ihrem Laden steht, um dort über den Strassenverkauf ihren Umsatz etwas anzukurbeln.

Wie zu jeder frühen Mittagszeit wird es schwierig sein, einen Platz in einem Café zu bekommen.

Die Drei Eidgenossen, zu weit entfernt, das Lorenzini, von mir wegen seiner guten und günstigen Schale geschätzt, scheint noch nicht geöffnet, seine sonst illustren Gäste auf andere Gastronomien verteilt. Unsicher überquere ich noch einmal die Strasse, um einen Blick ins Adrianos zu werfen, ohne sonderliche Erwartung, ist es doch sonst regelmässig überfüllt und von einer Klientel besucht, die jemand mal als aufgeplusterte Lackaffen bezeichnet hatte.

Ich kann von aussen einen freien Fensterplatz ausmachen, zögere nicht lange und betrete die Bar, lasse mich dort nieder.

Ich richte mich ein, nehme mir eine Tageszeitung von einem Stapel Illustrierter, ein belegtes Brötchen aus einem Körbchen vom Tresen, setze mich wieder ans Fenster und warte.

Trotz des ungünstigen Wetters steht eine Reisegruppe hinter dem Turm der Zytglogge, soviel ist durch den breiten Torbogen zu erkennen. Unter den Schirmen sind die Kameras gezückt, einsatzbereit und die Köpfe nach oben gerichtet. Ich verstehe die Attraktivität dieser Attraktion nicht. Ein sich stündlich wiederholendes Spiel. Figuren, die aus einem Häusschen im Kern des grossen Ziffernblatts mechanisch getrieben werden, Tänze vollführen, für wenige Minuten, wenn es nicht Sekunden sind. Ein kleines Spiel. Spontan fallen mir drei grössere Uhrentürme, mit um ein vielfaches gigantischeren Spielen ein. Vielleicht täusche ich mich auch. Ich kann diesen sich dort manifestierenden Manierismus, ästhetische Pingeligkeit ohnehin nicht leiden, aber wenn dieses in meinen Augen unterdimensionierte Ereignis beinahe als Weltwunder gepriesen wurde, verliere ich meine Gleichgültigkeit. Ich bin einmal inmitten einer Reisegruppe gestanden, bin darin untergetaucht, habe gelauscht, um Reaktionen mitzubekommen. Eine allgemeine Enttäuschung machte sich nach der kurzen Veranstaltung breit. Zu klein, zu unbedeutend, um darüber zu grosses Aufhebens zu machen. Aber wahrscheinlich sind es die Reiseführer und der Mangel an anderen Sehenswürdigkeiten, ausser dem generellen UNESCO-Welterbegütesiegel für das Viertel, das seinen Ruf einer Sehenswürdigkeit hartnäckig verteidigte.

Endlich, ich werde wahrgenommen. Eine hübsche, junge Bedienung, BWL-Studentin vielleicht, kommt an meinen Tisch und nimmt die Bestellung auf. Einen Latte Macchiato und ein Glas Wasser.

Die Zytglogge ist ein beliebter Treffpunkt. Spezifisch, übersichtlich, nachhaltig. Im Falle eines Nicht- oder Verspäteteintreffens der Verabredung könnte man sich in eines der Cafés drumherum einquartieren oder sich an dem kleinen Kiosk gleich daneben aufhalten, ohne aber den Platz davor aus den Augen zu verlieren.

Da kauft einer ein Eis. Auf hundert Metern Entfernung schaut er aus wie Roman. Ich beobachte ihn. Die braune Lederjacke, die schwarze Umhängetasche – auch Roman hat solche Dinge. Die Art, wie er sich zum Zahlen vorbeugt und in seinem Geldbeutel kramt. Es ist Roman. Ich überlege, ob ich nicht hinausgehen und ihn an meinen Tisch laden sollte. Noch im Aufstehen denke ich, dass es vielleicht zunächst interessanter wäre, ihn noch eine Weile zu beobachten. Er würde ohnehin an mir vorbeilaufen, wollte er einen Bus oder die Tram nehmen. Es ist seltsam einen Bekannten, einen Freund zu beobachten, wenn dieser sich unbeobachtet wähnt. Er wirkt viel unbeholfener, viel zufälliger, unberechenbarer, als ich es sonst von ihm kenne. Er knüllt das Eispapier zusammen und will es in einen Mülleimer werfen. Der Versuch scheitert und das Papier bleibt daneben liegen. Er schaut sich um, ob jemand den misslungenen Wurf gesehen hatte, zögert, bückt sich und nimmt das Papier wieder auf, um es nun eine weiteres Mal gezielt zu entsorgen. Er blickt umher, während er an seinem Eis lutscht. Sein Gesicht scheint sich aufzuhellen, er hat jemand Bekanntes gesehen. Es ist noch nicht klar, auf wen sich seine Aufmerksamkeit zieht, ein Bus war angekommen und eine Menschentraube erst im Begriff sich aufzulösen. Es geht jemand auf ihn zu. Eine Frau in schlichtschicker Aufmachung – gepflegtes, strohblondes Haar, Pagenschnitt. Entschlossene Blicke. Sie scheinen sich gut zu kennen, geben sich nicht wie üblich zwei oder drei Begrüssungsküsse auf die Wangen, sondern küssen sich intensiv auf die Lippen. Roman umarmt sie fast etwas kräftig, legt einen Arm um ihre Schulter und will sie von hier fortführen. Einen kurzen Moment sind sie mir zugewandt.

Ich erkenne dieses Lächeln, die Grübchen, die ich einmal faszinierend fand. Sie schiebt sich die Sonnenbrille auf die Stirn und ich weiss: es ist sie – ich hatte sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.

Mein Kaffee wird aufgetischt. Ich versuche freundlich zu bleiben und zahle sofort. Ich blicke wieder aus dem Fenster und die beiden sind nicht mehr zu sehen. Das Brötchen ist trocken und der Schinken geschmacklos. Ich stürze den Kaffee hinunter, lasse das Brötchen und Wasser zurück und trete auf die Strasse.

Dranmor VI,3

(Das Kartenspiel)

Das Kartenspiel. Ich erinnere mich daran, wie sie und ich einmal bei ihm, das heisst in dem Haus seiner Eltern auf dem Land übers Wochenende eingeladen waren.

“Ich überlege mir gerade, ob ich nicht schon heute mittag fahren soll.”

“Das musst du wissen – iss wenigstens noch einmal ordentlich.”

1. Es gab einen Streit am Vorabend, möglicherweise war ich der Auslöser. Möglicherweise zurecht.

2. Es ging nicht um die Regeln des Kartenspiels. Es ging vielleicht um die Härte der Auslegung, die Strenge der Umsetzung der Regeln des Kartenspiels. Ich war immer für die strenge Hinterfragung der Regeln in Spielen, insbesondere der Fragen, wie sie in Wissenspielen auftauchten.

3. Es ging gar nicht um die Regeln, es ging darum, dass von Roman und ihr mehrfach behauptet wurde, ich hätte etwas nicht gesagt, als es darum ging, etwas zu sagen. Ich hatte es aber gesagt – so sehe ich das immer noch.

4. Ein Überstimmungsregel wurde eingeführt und bei einfacher Mehrheit angewendet.

5.  Ein Spielstand wurde von Roman inkorrekt wiedergegeben – ich protestierte und beharrte, auch dann, als Roman und sie die Unabsichtlichkeit ihres Fehlers beteuerten. Ich monierte ein Deutungskartell und eine langsam für mich nicht mehr lustige, mich ermüdende Verschwörung der beiden gegen mich.

6. Ich wäre derjenige, der immer besserwisserisch sich in Spielen betätigen würde. Ich könnte nicht verlieren, sagte sie. Das hätte auch Roman ihr schon öfter bestätigt. Andere wären viel entspannter.

Ich gab zu bedenken, dass ich einige andere nennen könnte, die von mir in dieser Beziehung bestimmt das Gegenteil behaupten würden, und bilanzierte, wenn Roman wüsste, wie viele andere über ihn so dächten. Und regte mich auf, ihn immer wieder hinter seinem Rücken verteidigt zu haben – und redete über Zeugenschaften im allgemeinen.

7. Ich bekam das Gefühl nicht mehr los, Roman solidarisiere sich mit ihr. Roman hatte immer noch nicht den Ernst der Lage, in der wir uns, in der ich mich befand, erkannt. Ich war enttäuscht, denn ich sah mich in erster Linie als Romans Gast und dachte, Roman und ich hätten ein näheres Verhältnis, als ich und sie oder er und sie.  Er sollte sich eigentlich in mich hineinfühlen können. Wahrscheinlich war ich eifersüchtig.

8. Ich verteidigte mich nach Kräften, es ging mir hier um eine prinzipielle Angelegenheit in der Beziehung zwischen Roman, ihr und und mir. Wir waren alle sehr angetrunken.

9. Ein Schlusswort, ein Machtwort von Roman sollte den Streit beenden. Dieses Thema sollte nicht wieder auf den Tisch. Roman und sie unterhielten sich weiter über ein anderes Thema, das ich nicht mehr erinnere. Ich wollte und konnte mich nicht mehr beteiligen. Ich ging ins Bad und putzte meine Zähne, ging zurück in die Küche und verabschiedete mich trocken, ich gänge nun zu Bett.

10. Am nächsten Morgen, ich hatte gerade die Zeitung geholt und etwas Kaffee gemacht, kam Roman in die Küche. Ob ich nicht etwas leiser sein könnte. Sie schliefe noch:

“Ich überlege mir gerade, ob ich nicht schon heute mittag fahren soll.”

“Das musst du wissen – iss wenigstens noch einmal ordentlich.”

Ich glaubte zu verstehen. Es wurden keine Anstalten gemacht, die Situation zu deeskalieren. Vielleicht ein Unvermögen unsererseits miteinander zu sprechen und auf uns zuzugehen. Ich nahm den Zug, jetzt, einen Tag früher als geplant, und reiste ab. Wir hatten uns nicht voneinander verabschiedet, aber er hatte mir noch eine Flasche Olivenöl mitgegeben.

Dranmor VI,5

(Aus den Aufzeichnungen II)

1885

Neben Gottfried Keller und Ferdinand Meyer der bedeutendste unserer vaterländischen Dichter der Gegenwart … wer hätte es dem Knaben prophezeit, dass er einst der gewaltige Herold des Todes sein sollte … Neigungen, … war die Wahl des Kaufmannsberufes vorauszusehen … Dass Dranmor in Wahrheit ein Dichter und nicht ein Dichterling und Reimeschmied ist, das fühlt Zecker sofort heraus … Eine solche Leier, oft rauh, disharmonierend ist diejenige Dranmors … dessen Antlitz so verwettert von den Schicksalsschlägen und den gewaltigen Seelenkämpfen … Dranmor weiss es wohl, dass er nur wenigen lieb werden kann und wird … Nach Frieden ringt sein Herz, das Todes wurde … In des Meeres Wellen badet er seinen Geist gleichsam frei von allem Staube … Der Pessimist ist durchaus keine neue philosophische Erscheinung … Der Pessimismus ist ein krankhafter Eudaimonismus … Dennoch theilt er mit diesen Koryphäen der neuesten Philosophie genau denselben Irrthum … Es fehlt ihm die freie unbefangene Würdigung des Evangeliums … Das Ergebnis aller Weisheit lautet: Todt ist Todt … Er ist ein Verteidiger der Feuerbestattung … Aber wer sagt es dem Dichter so haarscharf und unfehlbar, dass mit der letzten Zuckung im Gehirn alles zuende, dass der Rest Schweigen sei? … Unsere Hochachtung für den grossen Dichter und tiefen Denker zu Rio; aber da müssen sich unsere Wege scheiden … Dranmor wird niemals in vielen Büchereien zu finden sein. Er bringt zu schweres Gestein … Ich hätte dem gealterten Mann gerne eine andere Weltanschauung, vielleicht zu seiner letzten Fahrt über den Ozean gewünscht …

1894

Dranmor geht das ab, was Leuthold im Ueberfluss hat – das Rhythmische, die Form … Zum Epos fehlt ihm die innere Ruhe und die Anpassungsfähigkeit an die Aussenwelt. Sein dichterisches Vermögen ist beschränkt. Er kann nicht seine Arme ausstrecken, um ein Stück Welt auf einmal zu umfassen … Darum haftet den Dichtungen Dranmors etwas mühsames an … Er ist nicht schöpferisch … Er hat nicht die innere Kraft die Vergangenheit zu überwinden … Dranmors Talent bewegt sich in abgerissenen Formen … Dranmor fehlte das Vermögen, die Welt aus ihren einzelnen Erscheinungen heraus als ein Ganzes zu erfassen … Es ist, als ob Dranmor zu den nervösen Naturen gehörte, die das helle Sonnenlicht nicht ertragen können … Dranmor hat in seinem Besitze bloss einige Klänge, die er durchfühlt und variiert, deshalb war er auch kein produktiver Dichter … Ebensowenig hat auf ihn die Trope dichterisch wirken können …

1897

Der junge Lehrling, hinter den Rechenbüchern gebannt und das Herz voll Trauer und unbefriedigter Sehnsucht … Aber viel beachtet und besprochen ward die Dichtung bei ihrem Erscheinen nicht. Dafür war sie zu fremdartig und zu kühn … Diese und andere verunglückten Versuche drückten schwer auf den alternden Mann … Man sah auf dem Bahnhof Bern eine hohe, wenig gebeugte Greisengestalt auftauchen, in einem langen, faltigen Reisemantel gehüllt und sich mit der kleinen, rundlichen Begleiterin den Transport einer ganzen Familie vier- und zweibeiniger Lieblinge teilend … Hässlische Scenen sind dem Zusammenbruch des unglücklichen Greises jedenfalls vorausgegangen … Dranmor ist vor allem eine starke Individualität. Das zeichnet ihn aus vor manch berühmteren und fruchtbareren Zeitgenossen … Er musste seine Gedichte einer strengen, ihn merklich fremden Berufsarbeit und einer literarisch mangelhaften Bildung abringen … so wahr und warm hat wohl kaum je ein reicher Gönner von einem Ballettmädchen Abschied genommen … welche Sebsttäuschung dieser Liebe zu der Unwürdigen zugrunde lag und in der letzten Lebenszeit des Dichters so schmerzlich zutage trat … kommen oft so unvermittelt zum Ausdruck, dass man Mühe hat, sich zu einem reinen Genuss durchzuarbeiten … ungezügelter Gestaltungskraft und das für Dranmor bezeichnende Unvermögen einer streng verstandesmässigen Gedankenentwicklung … Schade, Schade nur, dass auch hier wieder der Ausdruck oft so dunkel und sprunghaft ist, dass er einmal zum blossen stammeln, dann wieder unter dem Zwang der übrigens musterhaften Form zur breiten nichtssagenden Tirade wird …

1914

weil sie (Schule Platens) inhaltlich nichts Neues oder kaum etwas bedeutsam Neues zu sagen haben, nicht zugleich irgendwie sprachschöpferisch, die Überschätzung der Poesie … Pathetischer Melancholiker … nicht Elegiker, sondern Pessimist. Er lebt im Schmerz über Verlorenes und über unerfüllte Träume und zertrümmerte Ideale … Sein Gefühl ist überdies eintönig und steril … monoton wie Lethe dahinrauscht … soll vorübergehend sogar in einem Zirkus debüttiert haben …

1924

einsamer Schwärmer … träumerisches Wesen … schwermütige Anwandlungen … reifte eine monotone, fragmentarische Lyrik mit unverkennbaren Spuren der Erschöpfung … bis zu seinem Tode am Mark seines Lebens zehrende verschuldete er selber durch die in leidenschaftlicher Verblendung geschlossene Ehe … achtundzwanzig gedankenschwere Ergüsse … pantheistische Diesseitsreligion … Doppelnatur Dranmors: die Dichtergabe und der Geschäfts- und Gründungsgeist … Sein Ehrgeiz war das Weltbürgertum … Byron, Platen, Waiblinger … Die Krankheit des Jahrhunderts … die Aufrichtigkeit, der hohe Ernst seines Leidens und Ringens … Allein seine Gestaltkraft war der hohen Aufgabe nicht gewachsen … Seine Stoffwelt ist beschränkt … für welche nicht der Inhalt, das Motiv, sondern die Form, der schöne Vers die Hauptsache sei …

1963

In Dranmor lebte ein schwerblütiges, ja schwerfälliges Temperament, das es ihm nicht leicht machte, von sich selber loszukommen … schwermütige Abwandlungen … In der materiell sorglosen Pariser Zeit (1868-1874) verzettelte er sich künstlerisch als “Weltbürger” … Bei aller Aufrichtigkeit jenes Tons ist Dranmor dennoch mehr nur ein dichterisch angeregter, wenngleich tiefangeregter Geist … sich ein ganzes Versgebilde hindurch, und wie mühelos, auf dieser Höhenlage zu halten, war ihm nicht oder kaum vergönnt … mit Minderwertigkeitsgefühlen zusammenhängende Gründe. Sein Bildungsgang war ja so unvollkommen gewesen … er hat offensichtlich Mühe, zum eigenen Erleben künstlerische Distanz zu gewinnen … sind poetisch schlaffe, ja nicht einmal geschmackssichere Wortgestaltungen … Wie bleibt aber all das in autobiographischer Realistik stehen! Platt Prosaisches, von dem Einzelnes fast das Komische streift … viel Prosaisches, Ungestaltes … doch in Ansätzen nur gestaltet … Dranmor versuchte sich auch in gereimten Verserzählungen; es liegt aber auf der Hand, dass er , der lyrische, unsinnliche Pathetiker, für diese Gattung nicht geschaffen war … bleibt gänzlich im Rohmaterial stecken … zudem unanschaulich und geschwätzig vorgetragen … Das adelt auch sein nur sporadisches Gelingen …

1979

Der seltsame Mann … ein Mann des Übergangs … Als Lebensgefährtin erkor er eine junge Kabarett-Tänzerin aus Rom … Requiem … scharf antichristliche Auseinandersetzung mit dem Tod … endete 1881 in totalem Ruin. Von da an lebte Schmid hauptsächlich von eigenen journalistischen und Übersetzungsarbeiten … literarischer Naturalismus … Petropolis … Es handelt sich ohne Ausnahme um Gedichte eines Dilettanten … pathetisch-kämpferische Weltschmerz-Lyrik: Lord Byrons … Kunst als Mittel privater Daseinsbewältigung … Er hat sich selbst mehrfach mangelnde Gestaltungskraft bescheinigt … Leider lag zwischen Wollen und Vollbringen eine brückenlose Kluft … Mit dem Kult des Fragments bei den Frühromantikern, vor allem bei Hardenberg und Friedrich Schlegel, hat das nichts zu tun … durch und durch konventionelle, ja klischeehafte Metaphorik … relative Ästhetik, geistige Heimatlosigkeit, über einzelnen Gedichten stehen mehr oder weniger passende Zitate als Motti … solipsistische Entlastung durch Produktivität … Es verlangte ihn nach Ansehen und Erfolg, obwohl er mit seiner Zeit zerfallen war … was er lebte, war die harte Existenz eines vermutlich wenig zimperlichen self-made-man … und ein neues Ahashver-Schicksal wird beschworen in den – wie fast immer – sprachlich absolut hilflosen Zeilen …