Dranmor VII,3

(Perdita)

Perdita. Die Verlorene? Die Untergegangene? Das Heine-Motto des Mitleids als letzter Weihe der Liebe macht rasend. Die Kritiker haben zurecht bemerkt, dass nur die wenigsten Motti über Dranmors Gedichten Sinn machten. Sinn macht auch dieses Gedicht nur an wenigen Stellen. Als frühes Sprachkrisedokument vielleicht. Die formale Überschwenglichkeit, die sich nicht zu beschreiben zutraut, was das Herz fühlt, während sie ihre heisse Stirn kühlt – an der Fensterscheibe. Er ein Löwe, sie ein Reh, so passt das nicht zusammen. Im Rückblick ruft er Bleibe hier, sie, die wie er vorher bemerkte, ihm treu und blind liebt, sie, Glück und Leid für ihn. Er will ihr eine grüne Weide sein – sie, gebannt von seines Rosses Huf, die schlimme Welt sei schuld.

Dieser seltsame Mann, dieser Mann des Übergangs versteht nicht. Wie anders soll man ihn verstehen? Die Welt ohne Gnade, Mitleid und Verstand. Herzensgründe gegen Verstandesgründe. Ihre Bitten, ihre Thränen. Er, derjenige, der sich einfangen liess, heisse Stirn, ein gezähmter Leu. Es war ganz anders.

Armes, heimatloses Kind – nicht sie. Eine dranmorsche Projektion. Er war sie und sie war er. Späte Einsicht Bleibe hier und Gerne folgt er deiner Stimme.

Gastlich dann sein Haus und still, das leere dann. Braune Augen – schwere Perlen.

Nicht sie war die Betrogene, Verlassene, die wieder gnädig, räuig von ihm aufgenommen werden sollte. Er flog ihr entgegen, kindlich sein Ruf, bricht sich die Flügel an einer Fensterscheibe – treu und blind.

Für sein armes Kind zu sorgen / Das ist alles, was er will. Inzestuöse Väterinstinkte. Verkappte Inzucht.

Eines ist naheliegender: Die Selbstsorge. Die Sorge um sich selbst in der zweiten Generation. Sie trug ein Kind von ihm, vielleicht, und wollte sich selber durchschlagen – ein schwerer, mutiger Entschluss zu dieser Zeit. Sie hielt es nicht mehr mit ihm aus, mit seiner Jämmerlichkeit, und wollte das alleinige Sorgerecht. Er, nicht sie, treu und blind. Und schwer gekränkt. Für sein armes Kind zu sorgen. Doppelte Vaterschaft und gastlich sein Haus – doch still. Menschenmögliche Menschenpflicht? Ein Egoismus. Trauer um das wilde Reh, das er nicht zu zähmen vermochte, nun ins Gegegteil verklärt, verdrängt.

Sie hatte es irgendwie geschafft, irgendwo, ohne ihn – den seltsamen Mann. Den Mann des Übergangs.

Dranmor V,6

(Aus den Aufzeichnungen I)

1881

Es will uns scheinen, dass die Zeit gekommen war, wo sich alte Schäden nicht mehr übertünchen liessen, oder auch, dass man hie und da, schon aus Nachahmungssucht und durch freches Beispiel demoralisiert, die Gelegenheit nicht versäumte, um sich von lästig gewordenen Passivas auf wohlfeile Art loszukaufen … Denn die Lockspeise verwirrt, und der Stachel der Rivalität sitzt tief im Fleische … Auf dem Ziffernblatt der Weltuhr, deren Pendelschlägen Nationen und Individuen zu lauschen haben, rücken, dem innern Mechanismus gehorchend, die Zeiger nur langsam vor, machen aber oft capriciöse Sprünge, wenn man sie mit Gewalt zurückstellen will. Auch dann noch hat, was man im Menschendasein Jahre oder Jahrzehnte nennt, in dem Leben der Völker kaum den Werth einer Minute … In der deutschen Belletristik dämmerte allmählig die Ahnung auf, unser rauhes, materielles Jahrhundert sei einer objectiven Beurtheilung würdiger, als einer summarischen Verdammung, und man entdeckte, dass der Roman- und Novellenschreiber, ohne sich dabei etwas zu vergeben, sogar dem “Handel” eine phosphoreszierende Seite abgewinnen könnte. Seitdem haben sich gewandte, beliebte Federn mit neuen Stoffen beschäftigt, und so naiv, so kindlich sie dieselben behandelten, sie fanden ein dankbares Publikum … “So, meine Herren! nachdem ich Ihnen nun alles gezeigt: die Quellen des Lebens, die Keime des Todes – glauben Sie noch an die Existenz einer Seele?” “Ich glaube daran!” – Damit nahm er seinen Hut und lief weg … Das ist bedauerlich, und Niemand wird es uns “Eingewanderten” verargen, wenn uns gar zu subalterne Rollen nicht allzusehr gefallen. Dennoch, “in unseres Nichts durchbohrendem Gefühle”, können wir unseren tiefen Sympathien für das schöne Brasilien nicht verschweigen … Erträglicher wird das Heimweh, wenn ein freiwilliges Exil kein gänzliches Losreissen von angestammten Vorrechten, von bisherigen Lebensfäden bedingt … Vergessen wir nicht, dass wir es mit einer tropischen Constellation zu thun haben, deren Radien nach entgegengesetzten Polen hinstreben, nach productiven oder productionsfähigen Gegenden mit topographischen Abstufungen verschiedenartigster Gattung und Eigenthümlichkeit, innerlich ohne Wahlverwandtschaft, äusserlich nur durch ein immer lockerer werdendes Band zusammengehalten … Unsere Sprache mag unmelodisch sein; von Leidenschaft angehaucht, oder auf Täuschung angelegt, ist sie nicht. Was uns von Vernunft und Erfahrung zu Gebote steht, wir raffen es zusammen, um uns in keine Hallucinationen zu verlieren … Die Sklaverei ist ein Fluch, den uns vergangene Generationen überliefert haben, aber sie ist auch eine Anomalie, die nicht mehr fortbestehen kann … Wenn wir unserem bescheidenen Wochenblatte ein Verdienst zuschreiben, welches freilich auch manchen anderen Pressorganen gebührt, aber nichtsdestoweniger seine Bedeutung hat, so ist es dasjenige einer streng journalistischen Haltung … Verloren für sein Vaterland ist der Auswanderer, wohin er seine Schritte richte, es sei denn, dass er als “gemachter” Mann in späteren Jahren, und auf immer, wieder heimwärts kehre … Wie manche Existenz ist nach solchen Träumen im Elend untergegangen! … Durch die Legung des transatlantischen Kabels in 1874 hat das brasilianische Exportgeschäft zwar an Sicherheit gewonnen, weil es sich täglich Informationen frischesten Datums anlehnen kann, dagegen verlor es jenen Reiz des Geheimnisvollen und doch nicht immer Chimärischen, welchen es früher der Combinationsgabe des Speculanten bot … Das geschäftliche Leben des fremden Kaufmanns in unsern Hafenstädten ist ein harter Kampf mit stets wachsamer Rivalität, mit den Launen der Börse, wie mit den Beschwerden und Gefahren des Clima`s Zu diesen Widerwärtigkeiten gesellt sich der saure Beigeschmack des Exils … Schönes, in dem immergrünen Frühlingsgewande und mit dem funkelnden Sternen-Diademe wunderbar-schönes Brasilien! Ja, du bist gross, doch deine Grösse verdammt dich zu wechselvollen Geschicken; du bist voll innerer Kraft, doch wie vielen deiner Kinder fehlt das ungefälschte, lebenswarm durch die Adern rollende Blut! …

Dranmor II,4

(Brasilien)

Du wärst gerne nach Brasilien gegangen. Du hättest gerne einen der zwei Plätze in dem Austauschprogramm angenommen. Die Sprache hast du begonnen zu lernen, dich mit deiner möglichen Abwesenheit hier beschäftigt, dich gefragt, was wäre, wenn du woanders wärst, dir einen Platz suchen und finden könntest, um dich dort neu zu orientieren, eine Zäsur herbeizuführen, die nicht allzu schmerzhaft, die nicht mit allzu grossen Umständen zu bewältigen wäre.

Du hast vom Meer geträumt. Von der Freundlichkeit der Menschen, von einer friedlichen Koexistenz, von einer anderen Umgebung, die du erschliessen würdest – die du dir zurechtlegen würdest. Du wolltest deine kleinen Enttäuschungen beseitigen, dir nützlich sein, und das alles in einer gesicherten Struktur.

Diese Programm hätte dir all das ermöglicht. Du wärst finanziell abgesichert gewesen. Du wärst in ein soziales Umfeld geschickt worden, das es dir auf ganz einfache Weise ermöglicht hätte, ein Beziehungsnetz aufzubauen. Du hättest dich weiter um dein Studium, deine Arbeit kümmern können – wer weiss, vielleicht wärst du dort geblieben, hättest dir einen Freundeskreis aufgebaut, hättest dich wieder verliebt, hättest dich mit dem Klima abgefunden – du bevorzugtest eigentlich eher kühlere Regionen – und wärst dort glücklich geworden.

Du hast dich aber gehen lassen, verschleppen lassen. Du hast dich um nichts mehr gekümmert. Bist damals aus deiner Wohngemeinschaft ausgezogen, weil du nachdenken wolltest, wie du einmal gesagt hast. Du hast dir eine kleine Zweizimmerwohnung genommen, die schäbig war und die du kaum bezahlen konntest, die du für beinahe ein Jahr nicht mehr verlassen hast.

Du hast viele Dinge abgebrochen. Kontakte, die du geschätzt hast, einen Nebenjob, den du gemocht hast, stattdessen die Nachtschichten in der Druckerei, bei denen du mit niemandem sprechen musstest. War es das wert? War sie das wert? Du hast dir überlegt, die Stadt zu wechseln, sie über Nacht zu verlassen und anderswo ein kleines Leben zu führen, zunächst einmal. Dann hast du erfahren, dass sie weggegangen ist, nach Italien gezogen ist, nach Neapel, ihre abgöttisch verehrte Stadt. Dann hast du erfahren, dass sie sich dort verliebt hat, in einen ihrer Dozenten, dann hast du erfahren, dass Roman sich für einen Platz in Rio beworben hatte. Und in dieser ganzen Zeit warst du gelähmt und hast nichts gemacht.

Und du hast dieses und jenes gedacht. Und du hast über sie nachgedacht. Und du hast über ihn nachgedacht, über die beiden schliesslich, und was mit dir passiert sei. Was mit dir schiefgelaufen sei. Und dann hast du lange über dich nachgedacht, und dann noch länger gar nicht mehr.

An einer Offsetmaschine und in deiner Souterrainwohnung mit der schimmelnden Dusche und der stinkenden Küche. Bis zu deinem Unfall hast du in einer eisigen Verharrung gelebt.

Und in der Zwischenzeit sind sämtliche Termine verstrichen, und du hast Arbeiten nicht eingereicht, und du bist den anderen hinterhergehinkt, und Roman hat einen Platz in Rio bekommen, das hast du erfahren, denn er hat dich noch vor seiner Abreise um kleine Gefälligkeiten gebeten und du hast sie ihm in deiner Lähmung erfüllt. Und dann hat er dir Karten geschrieben. In immer längeren Abständen. Und du hast sie kaum gelesen, und geschrieben hast du ihm nie, denn du fandest seine Adresse nicht mehr. Vielleicht wolltest du sie auch nicht mehr finden. Auch von ihr hast du eine Karte bekommen. Wie glücklich sie jetzt sei. Und eigentlich hättest du nach Rio gehen sollen. Doch dazu warst du nicht in der Lage – damals. Der Strand. Die gnadenlose Sonne.

Literaturliste Dranmor

PrimLit

Dranmor’s Gesammelte Dichtungen. Vierte, durchgesehene und vermehrte Auflage. Frauenfeld, J.Huber, 1900.

Ferdinand Schmid: Rückblicke auf verunglückte Colonisationsversuche in Brasilien. Rio de Janeiro, 1881

Ferdinand Schmid: Über Handel und Wandel in Brasilien. Journalistische Skizzen. Rio de Janeiro, 1883

SekLit

Dewulf, Jeroen: Dranmor, der erste Kosmopolit der Schweizer Literatur. In: Orte. Schweizer Literaturzeitschrift. Nr.144/2006. S.53-57.

Feistele, Max. – Die Lyrik Ludw. Ferd. Schmids [Dranmor“> / Liz.-Arbeit Univ. Basel, 1969 – (diese Arbeit ist signifikanterweise verschollen)

Frey, Adolf: Schweizer Dichter.  S.143-149. Leipzig : Quelle & Meyer , 1914.

Greyerz, Otto von: Einleitung zu den ausgewählten Gedichten Dranmors. IN: Die Schweiz im deutschen Geistesleben, Bd. 28, Leipzig, 1924

Günther, Werner: Dichter der neueren Schweiz Vol.1. S.67-85. Bern, 1963-1986.

Neumann, Gerson Roberto. – “Brasilien ist nicht weit von hier!” : die Thematik der deutschen Auswanderung nach Brasilien in der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert (1800-1871) / Gerson Robert Neumann. – Frankfurt am Main : Peter Lang, 2005

Pester Lloyd 22. Jg, Nr. 69, 24. März 1875, Beilage: Dranmor (nicht zugriffig)

Saitschick, Robert: Meister der Schweizerischen Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts. Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller u.a. IV, 428 S. Frauenfeld, 1894

Schaffroth, JG: Der Dichter Dranmor. In: Alpenrosen. Ein schweizerisches Sonntagsblatt. Jg. 15, Nr. 3-6. 1885. S. 20, 27, 35, 43

Stern, Martin: Ludwig Ferdinand Schmid (Dranmor): Ein Schweizer Schicksalsgenosse Karl Postls und Nikolaus Lenaus; Festschrift fur Prof. Dr. Nikolaus Britz zum sechzigsten Geburtstag am 7. Nov. 1979. IN: Gladt,-Karl. Lenau-Almanach 1979. Vienna : Braumuller, 1979.

Vetter, Ferdinand: Ferdinand Schmid (Dranmor). Eine litterarische Studie. Bern 1897.

Nachträge und Ergänzungen gibt es u.a. hier

Dranmor I,3

(Brief)

[Ich hatte ihr den Brief persönlich vorbei gebracht. Nein, verstohlen geschaut, ob auch niemand zusähe, und ihn dann in ihren Briefkasten eingeworfen. Nur ihr Vorname stand darauf – ein Geständnis darin. Am Mittag von ihr besucht worden, des Briefes wegen, wie angenommen wurde. Stattdessen eine Fragestunde. Er hätte sie zum Frühstück eingeladen. Sie hätten Sekt getrunken. Er hätte sich ausgezogen und sich auf sein Bett gelegt. Sie sei verwirrt gewesen. Sie sei dann wütend geworden. Sie hätten sich dann gestritten – er sei immer noch nackt gewesen. Sie wüsste auch nicht, warum es sich dann so entwickelt hätte. Plötzlich hätten sie miteinander geschlafen – sie kann sich das gar nicht erklären. Es sei sehr schön gewesen. Wie ich denn darüber denke. Wie sie sich denn verhalten solle. Ob sie nun mit ihm zusammen sei, wisse sie noch nicht. Aber es wäre besser, wenn wir uns eine Weile nicht sähen. Nein, sie habe noch nicht in ihren Briefkasten geschaut – sie müsse jetzt gehen. Die Eile. Die Fahrt mit dem Fahrrad zu ihrer Wohnung, um dort vor ihr anzukommen. Um den Brief wieder herauszufingern – aus dem engen Briefkastenschlitz. Das Sichdavonstehlen, mit hochrotem Kopf und zerkratzten Händen.“>