Dranmor I,2

(Die Bilder)

Die Kiste. Eine Kiste mit Büchern und Schriften – wie ich vermute, die er irgendwann einmal bei mir deponierte, bevor er ins Ausland ging, und die nicht mehr abgeholt wurde. Sie ist seitdem immer mit mir umgezogen, mit mir mitgezogen. Ich weiss nicht einmal mehr, was genau sich darin befindet. Sie müsste aber eigentlich noch im Keller stehen, und ich gehe hinunter, um sie zu suchen.

Ich finde sie in einem dunklen Winkel unter allerlei Kram, Koffern, Plastikwannen mit Elektromüll und Kabeln – und ziehe sie hervor. Es ist dunkel und ich kann nichts erkennen, und weiss, dass ich eigentlich derjenige wäre, der die kaputte Glühbirne auswechseln müsste, so wie ich nun derjenige bin, der immer angesprochen wurde, wenn es um die Erledigung von Dingen rund ums Haus ging. Eine Art Hausmeister. Eine Ansprechperson. Ich würde mich irgendwann darum kümmern.

Ich schleppe die Kiste, den grossen Karton, den ich umständlich schultere, hinauf zu mir in den zweiten Stock, durch das enge lindfarbene Treppenhaus. Stelle ihn in meinem Arbeitszimmer ab und öffne ihn.

Wie erwartet: Semesterliteratur, Vorlesungsverzeichnisse, Mitschriften in Ordnern, ein paar Bilder, ein Notizblock, Kassetten. Wie ein Inventar, das ganz zuletzt verpackt wurde und dann wahllos in eine übrig gebliebene Kiste wanderte.

Die Bilder: Seine Eltern mit ihm auf Urlaub in irgendeiner Berglandschaft, ein Jugendfoto Romans, mit blauem T-Shirt steht er in einem Garten neben einem Apfelbaum, und eines mit uns, das heisst: mit ihm, mir und ihr.

Ich lege alles wieder zurück, bemühe mich dabei, die ursprüngliche Ordnung wieder herzustellen, obwohl Roman sich nicht an diese würde erinnern können. Ich beschliesse ihm bei nächster Gelegenheit davon zu erzählen, sie ihm zurück zu geben.

mat zu dm V

Briefe von und an Peter Hille

nicht datiert oder unsichere Zuordnung

Detlev von Liliencron an Peter Hille

(Anfang fehlt.)

Nur eins gleich hier: Sie müssen, lieber Freund, nicht verzagen, wenn Sie Abschläge erhalten haben. Denken Sie an das deutsche Millionenleserpack (– Fürst und Eckensteher, ganz Wurst

Unsere biederen Landsleute lesen nicht gerne originale Gedanken, nicht gern: ihnen neu ins

blöde Hirn Fallendes. Und somit prophezeie ich Ihnen: Sie kommen durch!! ! Aber nach schwerem Ringen. Also Kampf! Geben Sie nicht klein bei – Dies möchte ich auch hier noch mir ergebenst gestatten zu bemerken: Ihre Prosasachen können noch die Feile haben. Es sind noch manche Schreibfehler stehengeblieben.

Haben Sie herzlichen Dank für Ihren langen, interessanter Daten vollen Brief.

Ich werde diesen Frühling oder Sommer definitiv nach Berlin übersiedeln, da ich hier auch nicht einen Menschen habe, mit dem ich mich in literarischen Dingen aussprechen könnte. Ich hoffe, daß wir dort uns treffen. Ich habe auch noch mit Regulierung von – 50.000 Mark Schulden zu tun – aus früheren Zeiten –), die mich fast täglich in die Mündung meines Revolvers schauen lassen. Das ist ja so sehr günstig für einen Dichter. Aber wir sind ja deutsche Dichter. Und deshalb erst perumptorisches Verlangen unserer Landsleute:

Hunger die Bestie, Wahnsinn erst – denn weshalb ist das Vieh „Dichter“ geworden und nicht Käsehändler.

Was Sie über Pantenius schreiben, unterschreibe ich unter Trommelschall. Es ist nur ein herzloser Patron. –

Ich werde nun also auch den Rest Ihrer M.S. warten und zugleich, ob ich es an 0. und Gr. weiterschicken soll, oder an Sie zurück. Ich bin sehr glücklich, daß Sie in Pyrmont einen netten Hauswirt haben. Bravo! Geben Sie dem Mann von mir einen herzlichen Händedruck.

Aus Ihrer (– brieflichen –) allerliebsten Schilderung Ihres Restaurations-Besuches auf dem Berge werden Ihre: Die Kinder entstanden sein. Ich bin gespannt auf die Ausführung. Die Skizze läßt Herrliches erwarten! Ihre Vorliebe für Dranmor teile ich mit ganzer Seele. Wer kennt ihn? Nur wenige.

Ja: „das Einvernehmen“. Der Titel schon ist gut. Aber der Titel ist zu weit ab von der Landstraße, und – siehe unsere braven Landsleute. Ich habe insofern Bedenken gegen diese geplante Zeitschrift, weil ich glaube, daß die erwähnten Fächer ja alle schon in Einzelbearbeitungen (– Journalen p.p. –) in unendlichen Massen auf den Markt kommen. Ich finde sonst Ihre Idee ausgezeichnet.

Hoffentlich haben wir noch Gelegenheit, uns mündlich zu sprechen, und shake hands zu machen sei es, wo es sei. Ihr treuer Liliencron

Dranmor VIII,2

(Trenmor dilirium)

Dranmor werden

[Artho, Atha , Borbar, Cairbar, Cormac, Conar, Duthal, MhMhMh, Cormac, Sohn des Trenmor, der große Großvater von Fingal, König jener Caledonier, die den Western von Schottland bewohnten. MhMhMh. Fingal ärgerte sich über das Benehmen von Cairbar und beschloß rüber nach Irland mit einer Armee zu gehen, um die königliche Familie wieder auf den irischen Thron zu setzen. In früher Kenntnis seiner Pläne, sammelte Cairbar einige seiner Stämme in Ulster und beorderte zur gleichen Zeit seinen Bruder Cathmor, ihm schnell mit einer Armee von Temora zu folgen. Solchermaßen war die Situation, als die kaledonischen Invasoren an der Küste von Ulster erschienen. Uswusf.

So beginnt die Temora. Temora, das bedeutet Ärger!

Warum nennst du dich Dranmor? Warst du Trenmor? Trenmor lebte an den Tagen eines anderen Zeitalters. Dort rollten blauen Wellen von Irland im Licht. Über die Berge breitete sich der Tag aus. Die Bäume schüttelten in der Brise ihre dunklen Häupter. Graue Sturzbäche vergossen ihre lärmenden Ströme. Zwei grüne Hügel mit alten Eichen, umgaben eine schmale Ebene. Am blauen Lauf eines Stromes, standest du an seinen Ufern. Die Täler umher sind traurig und fürchteten den postwendenden Schauer! Du warst Trenmor, Urgrossvater des Fingal. Du bist Ursprung, bist Dranmor, Ausgang und Ende, kein Stück von mir und doch mehr als du bist, bin ich du?“>

Dranmor IV,3

(Die Welt ist gross)

Langweilig aber fand ich’s überall

Wiedersehn, dich wiedersehn? war die Betreffzeile in Romans Mail. Ich vermute er arbeitet gerade an einer Interpretation dieses Textes. Ich habe ihn kurz überflogen und dann in einer Mappe vergraben. Mit dem Gürtel, mit dem Schleier / Reißt nicht jeder Wahn entzwei. Daran erinnere ich mich noch. Ich konnte beim besten Willen mir hieraus nichts zurechtbiegen. Ich favorisierte einen anderen Text, ich fand Spleen und wollte mich darüber hermachen.

Die Welt ist groß – ich weiß es zur Genüge,

Ich habe sie durchschritten und durchschwommen;

Die Welt ist klein – ich bin zurückgekommen

Und lache meiner Argonautenzüge.

Vergebens griff ich nach dem goldnen Vließ,

Mir hat bis jetzt kein Lorbeer grünen wollen,

Und kindisch schien es mir zu grollen,

Als auch die Liebe mich verließ.

Langweilig aber fand ich’s überall

Trotz heitrer Frauen, schäumender Pokale,

Und fragen darf ich ohne Wörterschwall:

Wo waren meines Herzens Ideale?

Mir ging es, wie es stets zu gehen pflegt,

Wenn Edles, Wahres sich in mir geregt,

Dann haben meine werten Zeitgenossen

Mir gleich aufs Herz geschossen;

Stets ward, was Ehrenhaftes mir passiert,

Von meinen Gönnern vornehm ignoriert,

Und wenn mich Ehrgeiz, Thatendurst gepeinigt,

Dann haben gute Freunde mich gesteinigt.

O große Welt voll kleiner Leidenschaften,

O kleine Welt voll großer Eitelkeit,

Mit welchem Aerger sah ich weit und breit

Den gleichen Staub an unsern Sohlen haften!

d9

Jetzt habe ich ihn mir wieder zurechtgelegt, doch auf dem Bildschirm Romans Botschaft. “Danke für deine prompte Antwort, freue mich schon auf ein weiteres Treffen mit dir (Wie lange ist es nun her, dass wir uns regelmässig getroffen haben? Drei, vier Jahre? Und wie lange haben wir uns nicht mehr geschrieben? Und nun Dranmor … ) Ich habe ein Gedicht aus dem “Bund” ausgegraben und frage mich nun, was du gefunden hast … Wie wäre es übermorgen? B.”

Dranmor V,4a

(Tauschhandel)

Nein, ich hatte von dieser Arbeit noch nichts gehört. Roman hatte gestern von einer Schrift über Dranmor gesprochen, die sich mit seiner Verzweiflung nur wenige Jahre vor seinem Tod beschäftigte. Er hatte vor kurzer Zeit eine bibliographische Notiz im Internet gefunden, vielleicht war sie in einer Fussnote, die angeblich den Titel „Dranmors Trauma“ hatte. Dummerweise hatte er sich weder den Fundort noch den genauen Eintrag notiert, gespeichert, er habe es mehrmals versucht, ihn wiederzufinden, doch vergeblich, wie er meinte. Ob ich nicht davon gehört hätte, fragte er mich gestern in der Bar.

Ich war völlig perplex. Genau das Thema, das ich zu beackern versuchte, zu dem ich nun schon seit Wochen Informationen recherchierte, und er war, so sagte, fündig geworden. Meine Zweifel: Hatte er tatsächlich etwas gefunden? War er möglicherweise sogar im Besitz des Dokuments und wollte es mir nun vorenthalten? Hatte er das alles nur erfunden, um sich wichtig zu machen? War es ein Versuch eines Tauschhandels? Eine Konstruktion einer Geisel? Sicher, ich hatte ihm durch die Blume gesagt, dass ich an Material geraten war, drei unbekannte Gedichte Dranmors in einer kleinen Schweizer Kulturzeitschrift des Jahres 1867?, die von den meisten Kritikern ognoriert wurden. Dort konnte man einen anderen Dranmor erkennen. Dort, 1867, zeichnete er mit Fernando und wollte den Umsturz.

Ein politischer Dranmor wollte wohl nicht so recht in das Bild des harmlosen klassizistischen Romantikers passen, wie es die Kritik des letzten und vorletzten Jahrhunderts gerne gesehen hätte.

Ich habe gegenüber Roman erwähnt, ich hätte darüber gelesen und würde mich um die entsprechenden Erkundigungen kümmern, könnte aber für nichts garantieren. Die Zeitschriften seien sehr alt, ständen sousagen vor ihrer Auflösung und wären sicher unter Verschluss. Ich würde ihn auf dem Laufenden halten.

War das der Deal? Meins gegen seins? Ich sass den ganzen Nachmittag in der Bibliothek und versuchte Dranmors Trauma zu finden. Fehlanzeige. Ich surfte nun seit mehreren Stunden im Netzt und finde nichts. Meine Augen sind gerötet und jucken an den Rändern. Die Sätze vor mir verschwimmen, ich verliere langsam den Glauben, rede mir ein, Roman würde nur Pokern, ein Spiel mit mir spielen, in Wirklichkeit hatte er nichts in der Hand. Der Artikel, den er meinte, existiere gar nicht. Ein guter Titel, eigentlich. Ich fühle mich wieder etwas wohler, erhalte Auftrieb. Sollte Roman sich das alles bloss ausgedacht haben, und das würde sich schon noch herausstellen, so würde ich ihn mir vielleicht zu Nutze machen. Dranmors Trauma.

Ich murmele ihn vor mich hin, spreche ihn mehrere Male laut aus. Ein bisschen viele R`s darin, vielleicht. Ein fränkischer Sprecher würde damit seine liebe Not haben, aber, nun gut, ein Titel, ein Haupttitel, wäre geboren. – Ich schenke nach. Mir ist der Wein ausgegangen, und kam heute nicht zum Einkaufen. Ich trinke nun mit Wasser gestreckten Averna. Eis gibt es nicht dazu, das Gefrierfach meines Kühlschranks ist zugefroren, und ich müsste es erst einmal abtauen, um wieder welches herzustellen. Zitronensaft ist noch zur Genüge da; aus jenem kleinen gelben Plastikbehälter in Zitronenform. Sollte sich die Avernaflasche heute noch leeren, blieb mir noch das Aquavit, das wohl deswegen noch vorrätig war, weil ich Kümmel auf den Tod nicht ausstehen kann.

Ich muss eine Pause einlegen. Es ist nun halb drei und ich beschliesse für heute aufzuhören. Morgen noch ein Arbeitstag und dann war schon Wochenende. Wenn ich nicht Roman treffe, würde ich viel Zeit haben und könnte mich in meiner Wohnung vergraben. Einmal Schlafen noch. Ich bin noch nicht müde und lege die zweite Buddenbrooks-CD ein.