Dranmor X,1b

(Aus den Aufzeichnungen IV)

2006*

“Aber nicht nur Affen und Papageien brachte Dranmor aus Brasilien mit, auch eine innere Unruhe, die ihn nicht weniger als vier Mal die Wohnung wechseln lieβ, bis er, kaum zehn Monate nach seiner Ankunft, einem Herzschlag – gemunkelt wurde auch: einem Peitschenhieb seiner Frau – erlag. (…) Es war die Zeit, als die literarischen Revolutionäre der achtziger Jahre, die „Jüngstdeutschen“, den Kampf mit der Epigonendichtung aufgenommen hatten und dem Naturalismus den Weg bereiteten. Ihnen erschien Dranmor damals als „eine ernste, tiefe, gewaltige, vulkanische Dichternatur“, wie es Hermann Conradi in seiner Einführung „Unser Credo“ zum klassischen Werk Moderne Dichtercharaktere (1885) ausdrückte. (…) Schon damals äuβerte sich bei ihm eine sonderbare Mischung von Melancholie und Abenteuerdurst. Bereits mit 18 schrieb er das Gedicht „Ich möchte schlafen gehn“1, das an Melancholie in der Schweizer Literatur unübertroffen sein dürfte. (…) Diesmal blieb der erhoffte Erfolg jedoch aus, so dass der frühere Millionär in einem Brief eingestehen musste: „Ich bin achtundfünfzig Jahre alt, innerlich gänzlich gebrochen, materiell von Grund aus ruiniert“. (…) Auch Dranmor selber hat das Spiel mitgemacht, indem er das Ganze als eine Rückkehr aus dem Exil (!) dargestellt hat. Im Vorwort zu der vierten (und erstmals in der Schweiz gedruckten) Auflage seiner Gesammelten Dichtungen entschuldigte sich Dranmor sogar für seinen Kosmopolitismus. Allerdings tat er dies mit einem recht hermetischen Satz: „Schweizerischer Nationalität, aber germanischer Abstammung, bin ich in meiner ganzen Richtung vielleicht allzu sehr in dem Panzerhemde eines ‚Weltbürgers’ heimisch geworden.“ (…) Es wäre daher sicherlich falsch, Dranmor auf eine einzige, national oder kulturell begrenzte Heimat festlegen zu wollen. Bei der Geburt wurde er, so schrieb Dranmor einst über sich selbst, „hinausgeworfen in des Lebens Wirrwarr“, wobei man unweigerlich an Heideggers „Geworfenheit“ denkt. Deutlich wird auch, dass es ein fataler Fehler wäre, Dranmors Konzeption von Geburt nur mit der Stadt Bern und der Nation Schweiz in Verbindung zu setzen. Dranmor verknüpft die Geburt nicht mit einer bestimmten Stadt, Kultur oder Nation; er sieht sich von Geburt an als Weltbürger, als Kosmopolit. (…) Diese Kombination von Weltbürgertum und Fragment leuchtet durchaus ein; gerade indem sich der Dichter der ganzen Welt öffnet, ist er nicht mehr imstande, ein geschlossenes, kohärentes und harmonisches Weltbild zu vermitteln, sondern lediglich eine Zersplitterung von Ansätzen und Ideen. (…)”

Zitiert nach: Dewulf, Jeroen: Dranmor, der erste Kosmopolit der Schweizer Literatur. In: Orte. Schweizer Literaturzeitschrift. Nr.144/2006. S.53-57.

*Vgl. auch diese Korrespondenz und die Literaturliste. Meines Wissens ist dieser Text von Dewulf einer der ersten, der eine neuerliche Rezeption Dranmors überhaupt einleitet – nach einem fast dreissigjährigen Schweigen. Interessant ist hier vor allem die kritische Reflexion und Zwiespältigkeit des Heimatbegriffs bei Dranmor. Aber auch die Verbindung des Dranmorschen Schreibens mit der Form des Fragments. Die Zweifel an einem gewaltlosen Ableben werden hier übrigens weiter genährt.

1Ich möchte schlafen gehn / Dort auf den grünen Matten; / Dort, wo die Tannen stehn, / Möcht’ ich in ihrem Schatten, / Befreit von Herzensqual, / zum letztenmal / Die blauen Wolken sehn / Und ewig schlafen gehn. // O langersehnte Lust, / Die Menschen zu vergessen / Und diese heiβe Brust / In feuchten Tau zu pressen! / Kein Laut im weiten Raum – / Ein letzter Traum – / Und alles ist geschehn. // So möcht’ ich schlafen gehn. / Ich habe lang’ gewacht, / Von süβer Hoffnung trunken, / Nun ist in Todesnacht / Der Liebe Stern versunken. / Fahr’ wohl, o Himmelslicht! / Ich klage nicht – / Doch wo die Tannen stehn, / Da möcht’ ich schlafen gehn.

Dranmor Korrespondenz 2

Lieber Herr D.

haben Sie recht herzlichen Dank für Ihren Hinweis. Gerade liegt mir Ihr Aufsatz vor und ich werde ihn recht bald lesen. (Wir haben “Orte” natürlich in der Bibliothek). Was mein Dranmor-Projekt angeht: es wuchert und wuchert und wuchert. Und ob da überhaupt noch “Dranmor” drüberstehen darf, ist eine andere Frage, da der Text immer selbstreflexiver wird. Wenn es Sie interessiert: hier ist ein kleiner Zwischenstand protokolliert:

http://www.abendschein.ch/more.php?id=211_0_1_0_C bzw. hier:

http://www.abendschein.ch/more.php?id=P683_0_1_0_C

Ansonsten halte ich Sie auf dem Laufenden, wenn etwas Neues passiert. Vielleicht könnten Sie mich auch informieren, wenn wieder etwas von Ihnen erscheint?

Herzlichen Dank

Hartmut Abendschein

Am 15.05.06 schrieb J. D. <...@netc.pt>:

– Zitierten Text ausblenden –

Lieber Herr Abendschein,

Wie steht es um Ihre Dranmor-Forschungen? Ich wollte Ihnen nur sagen, dass eine Kurzfassung meines Vortrags an der Universität Trier neulich in der Zeitschrift “Orte” erschienen ist, vielleicht interessieren Sie sich dafür.

Mit freundlichen Grüssen aus Portugal,

J. D.


Dranmor (0.0)

Buchcover der Ausgabe Gesammelte Dichtungen, 4. Aufl., Frauenfeld, 1900

Order Printcopy (letzte Fassung): Dranmor. Roman. (2012)


Vorstufen/Vorstudien 2003-2007:

edit (4. Mai 2007): Sichtung und Erfassung eines plötzlich aufgetauchten Nachlasses im Besitz des ebenso plötzlich aufgetauchten Urgrossneffen Dranmors.


edit (11./23. januar 2007): Die Lektorin schreibt Erfreuliches. Beginn mit der Manuskriptversion 4 (=Verarbeitung des Lektorats, Umarbeitung div. Passagen).


edit (24. november 2006): Zur Befeuerung der Phantasie: Die Manuskriptversion 3 als Band.


edit (2./3. november 2006): Fertigstellung der Manuskriptversion 3. Eine Anfrage interessierter Verlage ist hier möglich.


edit (26. oktober 2006): zur Neuorganisation des 10. Kapitels, der zyklischen Struktur des Romans und der Verwendung des Plotsheets.


edit (14. august 2006): erste Prototypen der Passagenepigraphe bzw. -vorspänne. In den Kommentaren zu diesem Beitrag die Ankündigung, den mittlerweile sehr komplex scheinenden Text wieder etwas (strukturell) zu vereinfachen …


edit (1. august 2006): Überlegungen zu Plotsheet und Vorspann (hier). Upload des regelmässig zu aktualisierenden Plotsheets im Readerbereich.


edit (9. juli 2006): Die Arbeit an Dranmor ist wieder aufgenommen. Den Stand der Dinge erfahren Sie hier. Die Architektur des Textes ist vorab über das provisorische Inhaltsverzeichnis einsehbar.


edit (3. mai 2006): Die Dranmor-Überarbeitung pausiert zugunsten Die Träume meiner Frau bis Anfang Herbst. Mehr hier.


Zum Romanmanuskript Dranmor, V2

(Stand: Jahreswechsel 2005/2006)

Am 20.12.05 wurde das vorerst letzte Dranmorfragment (IX,5b) auf “taberna kritika” eingestellt. Damit wurde sozusagen der zweite Punkt, das andere Ende des Romanbogens also, der dort innerhalb von ca. 20 Monaten langsam aufgefächert wurde, markiert.

Am 21.12. wurden die einzelnen Fragmente wieder vom Netz genommen. Davon ausgenommen blieben die kommentierten Romanfragmente (aus Fairness den KommentatorInnen gegenüber und natürlich auch als Erinnerung, ebendiese Kommentare produktiv zu nutzen) sowie die Materialfragmente. Daraufhin wurden sämtliche Fragmente in ein Dokument überführt, das nun den Umfang von ca. 330 Normseiten erreicht hat. Dieses Dokument ist nun Grundlage für die derzeitige Arbeit am Manuskript Version zwei.

Interessierte Verlage, Lektorate oder HerausgeberInnen können das sich nun weiter in Überarbeitung befindende Manuskript bzw. Teile davon anfordern. Über eine Prüfung würde ich mich sehr freuen. In einem vorläufigen Waschzettel findet sich ein Exposé des Romans. Dieses wird natürlich, je mehr am Manuskript gearbeitet wird, seine Gültigkeit verlieren und muss selbst überarbeitet werden. (Wird es auch).

Um weiter von der Arbeit am Manuskript zu berichten, habe ich auf “taberna kritika” die Rubrik überschreibungen eingerichtet. Diese soll aber nicht nur über dieses Projekt auf dem Laufenden halten, sondern selbst einen eigenständigen Text entwickeln, der sich generell mit den Problemen der (meiner) Über- bzw. Bearbeitung des Textes beschäftigt. Einer Art persönlicher Metatext zur Romanarbeit, also. Zu diesen zwei Texten („Dranmor“, “dranmor überschreibungen“) wird ab etwa der 2. Jahreshälfte 06 nach und nach der Kopfzeilentext sie liest mich entstehen.

Ich rechne mit einem Vierteljahr bis 4 Monaten, um nach einer Gesamtschau eine erste, leicht überarbeitete Manuskriptversion anbieten zu können (Version zwei). Danach, je nachdem, reift das Manuskript in weiteren Versionen aus. Ihr Feedback ist mir selbstverständlich immer sehr willkommen …

P.S.: Die unten angeführte Inhaltsstruktur der ursprünglichen Fassung lasse ich weiterhin online, um einen kleinen Überblick über Ausmass und Stossrichtung des Projekts geben zu können. Aber, wie gesagt, auf die meisten Teile kann hier nicht mehr zugegriffen werden …


Dieser (leicht modifizierte) Stich befindet sich in der Dranmor-Studie von Vetter


Dranmor (Roman, Struktur, Fragmente, V1)

(Stand Dezember 20.12.2005)

[links broken. suche via titel-search.]

Kapitel 1 – Oktober

I,1 Ein Wunsch

I,1a Umzonen

I,1b Taktlos

I,1c Abwärts

I,2 Die Bilder

I,2a Ironie

I,2b Diskurse

I,3 Brief

I,3a Selbst ein Vielgereister

I,4 Laub

I,5 Ventilation

Kapitel 2 – November

II,1a Floskeln

II,1b Zwischennutzung

II,1c Unterm Dach

II,1e Spuren

II,2 Fragmente – böse Geister*

II,2a In den Krähenkrieg / Genealogie

II,2b Newton

II,2c Waldleben

II,3 Vita brevis*

II,3a Koffer

II,4 Brasilien

Kapitel 3 – Dezember

III,1a Büros

III,1b Atomium

III,1c Über Berge schreiben

III,1d Deadline*

III,1e Debe mara pa

III,2 Banal*

III,2a Puna

III,3a Permafrost

III,3b Pilzgeschichten

III,3c Ein konventioneller Magaziner

III,3d Nägel, Fleisch, Archivzeit

III,4 Ex humo*

Kapitel 4 – Januar

IV,1a Reisebildstudie

IV,1b Man müsse

IV,1c Die Nähte

IV,1d Ist alles lächerlich

IV,1e Wilde Wehen

IV,1f Loipenblut

IV,1g Das ginge doch

IV,1w Aus einer Email von Roman

IV,1x Pathogen*

IV,2 Der Unbelehrbare*

IV,3 Die Welt ist gross*

Kapitel 5 – Februar

V,1a Wo man sich aufhängt – eine andere Frage

V,1b Das Abenteuer der Langeweile

V,1c So

V,1d Nachtwachen und ihre Bilder

V,1e Stimmen, Stile, Siegel

V,3 Auf dem Verdeck*

V,4 Die Kreuzwörter

V,4a Tauschhandel*

V,5 In der Bibliothek I*

V,5a Kleine Theorie des Exzerpts

V,6 Aus den Aufzeichnungen I

Kapitel 6 – März

VI,1a Der Keller, das Dach, die Räume dazwischen

VI,1b Sabia

VI,1c Drei Vögel Feuer

VI,1d Kein Kampf

VI,1e Die Quellen

VI,2a An der Zytglogge*

VI,3 Das Kartenspiel*

VI,4 Das Dritte

VI,5 Aus den Aufzeichnungen II

VI,6 In Romanen ist alles anders

Kapitel 7 – April

VII,1a Drei Klänge*

VII,2 Heimweh

VII,2a Das Kind

VII,3 Perdita

VII,4a Barceloneta

VII,4b Reviere

VII,4d Bar Brasil

VII,4e Dance with me

VII,4f Koloratur

VII,4g Eins zu fünf

VII,4h Transfiguration

VII,5 Im Äusseren Stand

Kapitel 8 – April/Mai

VIII,1a Pirsch

VIII,1b Ich-Funktion

VIII,1c Aventiure

VIII,2 Trenmor dilirium*

VIII,3 Febre amarella*

VIII,4a Luftlinien oder In Frieden I

VIII,4b Raus da! oder In Frieden II

VIII,5 Kritisches Wäldchen

VIII,5a Waldau*

VIII,5b Randlingen

VIII,6 Das Ambulante

Kapitel 9 – Juni

IX,1a Für den Junimond

IX,1b Die Dinge an ihren Ort

IX,1c Die Sprachen der Dinge

IX,2a Sabina

IX,2b Burning down the house

IX,3 An einem Teich der Mitte

IX,4a Aufstellungen

IX,4b Ein kleines Pilzgericht

IX,5a Kaum günstigere Bedingungen

IX,5b Flugstunde

Kapitel 10 – Juli

X,1 (Über das Fliegen, Essay, wird nachgereicht)

X,1a Aus den Aufzeichnungen III

Materialien

Literatur

Materialien zur Mottoanalyse

Zur Erzählperspektive

Zu Dranmors Tod (Vetter)

Dranmor Anagramme

Dranmor Photographie

Dranmor Korrespondenz 1

Dranmor Korrespondenz 2

Dranmor Korrespondenz 3

Dranmor Korrespondenz 4

Dranmor Korrespondenz 5

Dranmor Korrespondenz 6

Dranmor Korrespondenz 7

Dranmor Autograph, Cosmos littéraire

Dranmor Erläuterungen (auch Waschzettel)

Dranmor / Die Gräber

Aus den Aufzeichnungen I | II | III | IV

* wird komplett umgeschrieben

Dranmor IX,5b

(Flugstunde)

Ich scherze. Dass man wohl von Glück sprechen müsse, dass es so früh sei und kein Mensch unterwegs. Dann: man käme leicht auf die Idee, dass mit uns etwas nicht stimme, sage ich, als wir die Quartiere erreichen und dort auf den Strassen die müden Lampen meiden. Dass man uns sicher zur Rede stellen würde, ein halbnackter Mensch, ein Vogel, ein rotes, flaumiges Etwas, die Anstösserstrassen hinunterhastend.

Und ich friere etwas am Morgentau. Zu schade, meine ich noch, dass Busch und Maximilian nicht dabei seien, aber das läge ja in der Natur der Sache.

Aber: Ich solle nicht soviel reden und weiterlaufen und meine Kräfte schonen, die würde ich noch früh genug brauchen, so Sabina, aber auch das Eichhörnchen keucht und pfeift ein wenig, denn es ist es nicht gewohnt solch lange Strecken zurückzulegen und fällt ein ums andere Mal zurück. Im Montbijouviertel legen wir eine kleine Pause auf einem Kinderspielplatz ein. Ich lege mich auf eine Bank, nachdem mir verboten wurde, mich in ein Häuschen aus rohen Planken zurückzuziehen. Zehn Minuten, gibt Sabina vor, und: es sei nun nicht mehr weit. Vor der wiederholten Frage, wohin es eigentlich gehe, weicht sie wieder aus.

Dann üben wir hier! Ich lege mich, wie geheissen, auf den Bauch. Ich strecke meine Arme aus. Strecke sie im rechten Winkel von meinem Körper. Ich schaue nicht nach unten. Ich schaue dabei nach oben. Spannung richtet meine Handflächen, justiert diese parallel zum gedachten Boden ein. Spannung fliesst nun durch Oberarme und begegnet sich in den Schultern. Ob ich das spüre?

Ich werde ganz Hohlkreuz. Es fügt sich mir während Oberschenkel und Waden versteinern. Diesen Zustand müsse ich mir merken. Dies sei der Zustand. Alles weitere ein Kinderspiel. In dieser Spannung und aus dieser Spannung heraus müsse eigentlich nur noch das Kinn leicht angehoben werden, und schon läge ich in der Luft, und schon stünde meinem ersten Gleitflug nichts mehr im Wege.

Die Spannung bricht etwas zusammen und ich ermatte im Sandkasten, rappele mich bald wieder auf und streife Sand von Oberkörper und Beinen. Das Prinzip sei aber sehr einfach. Wichtig nur: Am Anfang nicht nach unten zu schauen. Immer nur nach oben, bis mich der Aufwind tragen könne. Das sei der Moment höchster Konzentration. Denn: An und in diesem Moment scheiterten die meisten, die es versuchten. Und: man müsse sich unter allen Umständen die Vergangenheit vom Leib halten. Kein Wort darüber, also, und in die Zukunft blicken. Am besten sei es aber zu schweigen.

Ob ich verstanden hätte? Oder ob man die Trockenübung noch einmal wiederholen solle? Aber es werde ja schon bald hell und man habe keine Zeit zu verlieren, also sollten wir losgehen. Wir rufen das Eichhörnchen. Sicher ist es eingeschlafen oder hat sich auf einem Baum versteckt. Es ignoriert unser Rufen. Ich möchte es gerne bei dieser Übung dabei haben, aber Sabina deutet auf ein sich allmähliches Einhellen und verweist auf ein anderes Mal, also brechen wir auf.

Der Eigerstrasse entlang. Eine Finanzbehörde. Parken nur mit gültigem Parkausweis. Es sei nicht mehr weit, da vorne, man könne schon den Brückenkopf der Monbijoubrücke sehen.

Ein Auto kommt uns entgegen, betätigt die Lichthupe, fährt dann aber doch ohne uns weiter zu stören an uns vorbei. Leichter Schwindel. Links unter uns ist schon die Dampfzentrale zu erkennen. Auf dem Sportfeld daneben hat jemand sein Konterfei mit Sand ausgelegt. Es ist unlesbar. Wir wechseln die Strassenseite. Dann windet sich die Aare unter uns. Man kann selbst am Morgen ihre Reinheit erahnen. So grün. Wenn es bald wieder regnet, wird sie ihre Geschwindigkeit verdoppeln.

Ich kralle mich noch etwas am Geländer fest. Ich wisse also, was zu tun sei? Die Spannung? Die Handflächen. Und: Auf keinen Fall nach unten zu schauen im Moment des Abstossens. Im wichtigsten Moment. Überhaupt: zu schweigen. Und auch im Schweigen jedes unnötige Wort zu vermeiden. Ich bejahe dann ihre Frage, ob ich bereit sei.

Und hier die exakte Mitte der Brücke. Und dass man klassisch bei Drei abheben wolle, gibt Sabina vor. Ich kann mich jetzt schon eine kleine Sekunde in der Luft halten. Die Morgenstimmung. Eins. Hinter dem Gurten tut sich der Tag auf und möchte dabei sein. Zwei. Sabina ist heute noch viel reizender als jemals erlebt. Drei.

Wir gleiten über den Fluss, ziehen mit unseren Körpern seine Rundungen nach. Unsere schönen Köpfe recken wir nach oben. Ich mache das sehr gut. Und ob es mir auch gut gehe? Und woran ich jetzt denke?

Ich möchte ihr etwas über Schönheit erzählen. Dann lache ich und schweige wieder. Warum ich denn lache, fragt mich Sabina, während wir den Aufwind nehmen, eine Luftsäule, und uns langsam dem Berg nähern. Ich setze neu an. Das würde sie jetzt vielleicht nicht verstehen. Gerade sei mir ein Dranmor-Gedicht eingefallen. Suspension-Bridge. Ich habe es ihr schon einmal rezitiert. Ob sie sich erinnere? O, ja, sie könne sich gut erinnern.

Wie, das der Niagara? – Mit Verdruß

Rief ich`s hinunter von der Eisenbrücke. –

Dort in der Ferne der gespaltne Fluß,

Die Thalschlucht hier, die kleinen Felsenstücke?

Mein Traum, das war ein ew`ger Wolkenbruch,

Das waren Ströme, die vom Himmel brausen.

Ich wollte wie durch einen Zauberspruch

Hineinversetzt sein in der Sündflut Grausen.

(…)

Dranmor IX,5a

(Kaum günstigere Bedingungen)

Und ob man mir bitte wieder Füsse und Hände von diesen Fesseln lösen könne, frage ich sanft und in durchaus vernünftigem Ton, denn ich kann mir vorstellen, dass eine andere Strategie scheitern wird. Das würden sie sofort, Sabina, mit Blick auf die anderen, ich bräuchte wohl etwas Flüssigkeit. Viel Flüssigkeit.

Man hätte zu dieser Massnahme greifen müssen, man kenne schliesslich die Symptome. Letztlich hätte mich selbst verletzen können. Busch zieht seine eng um mich geschlungenen Wurzeln und Äste zurück und gibt meine Beine frei. Das Eichhörnchen zernagt sorgsam geflochtene Handschellen, die mich an einen gestürzten Baum fixierten. Dann weisst man mir, wo die Kleider hängen, diejenigen, die ich tragen dürfe, die frische Luft habe mir gut getan, eine gesunde Farbe, ja, vor allem im Gesicht, ich sähe sehr, sehr viel gesünder aus. Und nun dürfe ich mich anlegen. Die kurze Hose hier, die reiche schon, und, nun gut, wenn ich unbedingt wolle, auch das alte Hemd.

Und, ich werde ironisch, das sei aber sehr nett, dass ich mein Hemd behalten darf und mich nicht von ihm trennen muss, wie von der Jogginghose, der Jacke, den Schuhen und: Wo eigentlich die Notizen seien? Und: die Strümpfe?

Aber nein, ich könne mich wirklich an nichts erinnern und das sei eigentlich auch gar nicht schlimm. Sie haben ja recht, ich wisse ohnehin nicht mehr, was daruf gestanden habe, auf den Seiten, denke ich an sie zurück, an ihre Oberflächen, sind da nur noch Muster und nichts von irgendeiner Bedeutung, auch nichts Rückwärtiges, auch nichts nach oben oder unten Lesbares, oder von hinten, vielleicht.

Und im Teich: da schwimme es sich gut, da fahre bestimmt bald ein Schiff, das breche sicher entzwei, dann wären sie nützlich, das ihr Sinn, ist die Schrift, das Gedruckte nicht bis dahin gelöst oder zerlaufen, bis dahin. Bis dann.

Ein Vater? Ich lache. Eine Mutter? Schwester, Freunde, Schulkameraden? Ein kleines Arbeitsleben? Ihr habt sie mir gut gespielt. Aber nicht gut genug. Ihre Tatsächlichkeit sei doch sehr unwahrscheinlich. Und: Habe ich nicht die meiste Zeit mit euch verbracht? Mit dir, Sabina, meine Verlobte, und mit dir Eichhörnchen, guter Freund und Sprechkamerad, und dir, Busch, Haus und Hütte, und dir natürlich, Maximilian, mein Schweigsamer, mein Fisch, meine Sprache. Ich sei pathetisch? Habt ihr mich nicht Jahrzehnte durch die Wälder begleitet. Und davor? Ihr habt gesagt: war nur ein schlechter Traum.

Ich möchte das schon selbst glauben, was ich sage. Und ich glaube, was ich da sage. Da sage ich: Ich sage immer, was ich glaube. Hört ihr mich? Hallo?

Ich habe ein wichtiges Alter erreicht, so Sabina. Wie sie das meine, frage ich. Ich sei nun in das Stadium einer gewissen Volljährigkeit eingetreten. Das erreichten nicht allzu viele Menschen in meinem Alter. Die Weisheit, nein, so wolle sie das nicht nennen, es sei ein zu seltsames Wort, aber, ich verstünde schon, ein gewisses Quantum an zu Erlebendem sei nun vorhanden, und: ich könne nun mit ihm umgehen. Ich hätte mit all den Erfahrungen auch das Recht erworben, mich ihr anschliessen zu dürfen. Ob ich mich darüber freue?

Natürlich, ich freue mich mechanisch darüber, aber, was sie denn damit meine, „mich ihr anschliessen zu dürfen“. Wir seien doch schon ein Paar. Wir könnten uns doch kaum noch näher kommen, und, sicherlich, wir könnten mehr Zeit mit uns alleine verbringen. Ich werfe dabei einen verschwörerischen Blick über die Schulter in Richtung der anderen.

Das meine sie nicht. Wie ich mir das denn vorstelle? Überhaupt: Bald würde es wieder kälter werden und sie müsse sich in ein anderes Klima orientieren. Ob ich mir vorstellen könne, mitzukommen. Ich müsse das irgendwie probieren. Ich müsse es einmal versuchen, ja, wenigstens einmal versuchen mit ihr die Luft zu teilen. Und: ob ich ihr das verspräche. Und: ob wir das nicht bald versuchen sollten? Die Bedingungen dafür könnten nicht günstiger sein. Auch Busch, auch Maximilian, auch das Eichhörnchen echoen: Nicht günstiger. Kaum günstiger.

Ich überlege einen kurzen Moment, stimme dann aber ein in den Chor der nun alle Erfreuten: Er wird es versuchen. Ich werde es versuchen. Wann? Wo? Jetzt. Sofort? Komm mit.