Dranmor IX,1c

(Die Sprachen der Dinge)

Es wurde, das ist nicht ganz sicher, bestimmt kein Auge zugetan. Die geschwätzige Sofafeder, ich habe ihr mehrfach Feindlichkeit vorgeworfen, der von den Wangen rinnende Schweiss, der Tropfen für Tropfen eine Weisheit zum Besten geben muss. Die Dinge ringsum, die sich vermitteln wollen. Der auf einmal in allen Dingen liegende Ausdruck, der sich perfide aufdrängen möchte, in der Nacht und immer noch auf mich einzureden versucht und mich in etwas verwickeln will: bis in die frühe Morgenstunde, zu der sich die Vögel Guten Tag sagen und diesen planen.

Die immergleichen Themen, mehrfach: Wo den Morgen verbringen? Den Mittag? Den Abend? Und wo die besten Plätze wären, die reichhaltigsten Angebote und natürlich: Wer das schönste Gefieder besässe, der Star der quirligen Truppe sei. Heute Morgen. Auf der Fensterbank. Hinter den Gittern. Jenseits des Raums.

Natürlich fragt man mich auch um Rat. Natürlich habe ich auch eine unterstellte Meinung, wer der Schönste sei im ganzen Land, oder die, die ich favorisiere, die Schweigsame, wie ich sie nenne, mit ihrem verhaltenen, angenehmen Tschilpen, die sich versucht in den Hintergrund zu drängen und in diesem Getümmel keine grosse Rolle spielen will. Die Bescheidene, aber mit einem umfassend wissenden Lächeln, die mich durch das Glas ahnt und mich versteht. Sie heisse Sabina. Ich überlege lange, ob ich sie nicht hineinlassen sollte und ihr alles erkläre. Ich robbe zum Fenster und öffne es einen Spalt. Wir haben uns viel zu erzählen.

Die Vogeltraube erhebt sich mit einem Schlag in die Luft, zerstreut sich. Streuung. Die Fronttüre des Kulturbüros hatte sich geöffnet und wieder unsanft geschlossen. Dann geht alles sehr schnell.

Ein Barhocker fällt um und beschwert sich in keine bestimmte Richtung. Ein Schatten baut sich vor mir auf und gewinnt an Umriss. Sammelt sich und zerfliesst. Eine geballte Faust gestattet sich einen Augenblick der Wahrnehmung ihrer Bewegung vor die Stirn. Dann Schwärze.

Ein bekanntes Gesicht, das meine Wangen streichelt oder Untersuchungen durchführt. Prüfungen der Lider und heraustretenden Knochen. Weitere Tests. Der Druck auch auf manche Stellen, die weniger schmerzen, eine unberührte, eine geschonte Gesichtshälfte. Dazu bewegen sich seine Lippen und bilden Laute: Unverständliche Vokale, gedämpfte Konsonanten, die sich zusammen auf nichts beziehen. Ich versuche in seinen Augen zu lesen. Wer übersetzt, kommt mir Zuhilfe, bringt brauchbare Information?

Die neugierigen Spatzen am Fenster nach diesem Attentat? Ein schräger Schönling drängt sich aus dieser Gruppe, ruft: Keine Angst, du kennst ihn. Du bist in Sicherheit. Es ist Roman, dein alter Freund.

Ich beherrsche das Morsealphabet. Ich habe Sabina in dieses Geheimnis eingeweiht und weiss nun ihre Dienste zu schätzen. Das Klopfen ihres Schnabels gegen den hölzernen Fensterrahmen: Nimm dich in Acht vor ihm. Für ihn bist du nur ein Einbrecher. Wenn ich recht verstehe, gestört von den auf mich einprasselnden Lautfetzen. Das Geschütteltwerden. Ein Riss im Innenfutter. Jetzt Hände weg!

Da ist ein besessener Stuhl, der sich einmischt, indem er sich ein paar Zentimeter bewegt. Er hat eine Meinung zu all den Sachen, die mich umgeben, nur nicht eine eigene.

Was macht Roman da? Sollte er nicht in Barcelona sein? Er trägt ein paar Kisten hinaus in ein Auto. Sie verabschieden sich fröhlich von mir. Das Auto hupt einmal kurz und blinzelt mir zu. Schelmisch.

Dann seine Gesten: Wild, unbeherrscht. Sabina fliegt durch das offene Fenster, findet mich auf dem Boden liegend in einer dunklen Ecke, sucht ein freies Ohr und flüstert: Ich würde gehen an deiner Stelle. Ganz schnell. Er hat nichts Gutes im Sinn. Einbruch, sagt er, immer wieder Einbruch.

Das Sofa und ihre Feder: Ein Bruch! Ein Bruch! Hier wird aufgeräumt und sauber gemacht. Die Denunzianten.

Meine Wange glüht. Und die bestürzte Schulter. Roman entfernt sich und wirft einen letzten Blick in den Raum. Ich bleibe bei dir, so Sabina, als sich die Türe schliesst: Der Hinterausgang – man könne doch dort wieder hinaus. Das Sofa und ihre Feder: hinaus!

Vergiss deine Jacke nicht. Und diese Tasche. Meine schöne braune Lederjacke. Das klamme Tier. Ich beruhige es mit leisem Gesang, dann frage ich mich warum.

Das müsse nicht peinlich sein, mit Tieren oder Gegenständen zu sprechen. Sabina, das Sofa und die Feder, einer Meinung. Nicht ich habe das Gespräch gesucht, das hätten sie getan. Man habe mich schon lange im Visier, sagen sie. Ich spreche ihre Sprache, und: Es gäbe nun einmal nicht mehr viele, die all die Sprachen sprächen. Das nur noch unter meinesgleichen Gesprochene, das sei die Regel, man wisse das. Es würde nichts mehr erfasst werden. Es würde damit auch nichts mehr gesagt werden. Man verstehe am Ende natürlich gar nichts mehr. Ich bilde da eine Ausnahme.

Man werde dieses Thema vertiefen, aber: Die Zeit sei knapp. Sabina reckt ihr Köpfchen und dreht es um hundertachtzig Grad. Hörst du? Ein Wagen. Eine Sirene. Siehst du? Die blauen Lichter. Und: dass es hier eng werde. Los jetzt! Sabina pickt aufgeregt an meiner Ohrmuschel und zieht mich ein wenig in Richtung Hinterausgang. Sie kämen. Das Trommeln der Stiefel. Das Klappern von Stöcken. Der wuchtige Schub einer Autotüre.

Es gäbe noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Ich richte mich auf. Hilfst du mir? Sicher. Vergiss die Jacke nicht. Das Sofa und die Feder verhallen, niederträchtig: Er entkommt! Er entkommt!

Dranmor IX,1b

(Die Dinge an ihren Ort)

Tag- und Nachtgleiche. Dem Fahrradraum scheint das Aussen noch als um Nuancen helleres Quadrat und sucht nach Erleuchtung. Feuerfinger. Die Flamme des Feuerzeugs erinnert sich an bessere Tage und trauert ihrer Strahlkraft hinterher. Ein unbekannter Weg führt durch Gestänge und andere harte Materialien.

Ich stelle mir kleine Ausschnitte vor. Eine Nahaufnahme eines Ofenrohrs, das in der Ecke kauert. Eine Kabeltrommel, légère, lautlos, nach ihrem letzten Marsch ins Altenteil. Was nicht erkannt wird, muss mit Händen und Füssen erahnt und erzählt werden. Ein Werkzeugkasten ohne Werk. Das Zeug lungert hier irgendwo herum, triefend und findet nicht mehr zusammen. Flüchtiges Gas zündet ein letztes Mal, dann spritzen nur noch Funken, und: das wirkungslose Ratschen des Feuersteins an einem Eisenrädchen. Es zeichnet einen mageren Schattenwurf und gibt dann kleinlaut auf.

Ich bin der Osten und muss nach Westen. Der rücksichtslos drängende Körper durch unsichtbare Barrieren. Dabei entstehen Geräusche, nicht mehr auseinanderzuhalten, aber Zentimeter für Zentimeter, Meter für Meter ist Landgewinn zu verzeichnen. In der Nacht.

Eine Expedition? Überall Unbehagen, Unsicherheit und starre Gleichgültigkeit. Nur den Tagesfragen, und seien sie der frivolsten Natur, wird Aufmerksamkeit gezollt, hiess es. So etwas macht man nicht mehr! Schläuche mutieren zu Schlangen. Fussfallen. Eine Nachtigall ruft. Oder ein missverstandener Sabia.

Die Dinge müssen an ihren Ort, auch, wenn es nur wenige sind. Auch, wenn es nur ein paar Briefe sind und Bilder. Ein alter Schatz, ein Rohstoff, ein paar Diamanten, die von mir zu bergenden.

In einem Raum im Westen hatte er gesagt. Oder habe ich ihn sagen hören. Und dass die Dinge natürlich an ihren Ort müssten. Und der Ort, kommen die Dinge nicht zu ihm, sei ich. Eine Fahrradpumpe reckt sich, das ganze Unterholz bewegt sich und gibt einen Spalt frei zum Gang.

Schlammige Pfützen, bald Bauarbeiterkot und Urin oder ist ein Abfluss geplatzt? Ein Rohrbruch, der die Situation hier unten einzufrieren droht. Man muss Ausschau halten nach einem Boot, das für diesen Kanal taugte.

Eine Ratte sucht ein Gespräch. Eine zweite gesellt sich hinzu. Es sei aussichtslos. Gib es auf! Sie sind beide einer Meinung. In der Regenzeit sei hier kein Durchkommen, und was ich suche, muss schon lange versunken sein. Oder suchst du etwa gar nichts? Dann sei ich hier genau richtig. Dann nur weiter so, dies sei der richtige Weg.

Aber wie ich denn aussähe. Ich müsse doch wissen, dass man so keinen Stich machen könne. Wasser müsse mit Feuer bekämpft werden. Alles andere ergäbe nichts. Das wisse doch jedes Kind. Und mir stehe es bis zu den Knien. Da helfen auch keine Appenzeller, ob ich denn wisse, wo sie seien. Nein? Eben! Ihre langen Schwänze schlagen mit grosser Lebendigkeit Wellen.

Das Märchen vom kalten, finsteren Herzen, fahren sie fort, sei eigentlich gar kein Märchen. Eher eine sehr alte Beschreibung der Dunkelheit und Feuchte hier unten. Das der Zersetzung alten Papiers und was darauf stand. Der Erinnerung, die langsam zu einem schmutzigen Rinnsal würde. Ob ich das verstünde? Nein? Dann müssten sie sich wohl noch klarer ausdrücken: So einfach gehe das nicht. Es wäre der sichere Untergang. Man müsse ausgeschlafen sein. Und trocken. Und sehr gut bewaffnet. Und mit einschlägigem Wissen versehen. Ich wisse schon, was sie meinten. Ich soll also gehen, hier könne ich nicht bleiben. Also husch hinaus und ab ins Bett. Darüber einmal schlafen. So eine Rückführung müsse reiflich überlegt und geplant sein. Sie können mir nur diesen Rat geben, dann schwimmen sie davon.

Der Mond steht schräg über der Laterne und verflüssigt sie in einem unbeobachteten Moment. Mich wirft das Fenster aus, hinaus auf grauen Kies. Verlorene Zeit. In Kellern vergehe sie fünf mal so schnell, wie an anderen Orten der Oberfläche.

Ich ziehe eine feuchte Spur hinter mir her. Die Schuhe quietschen bei jedem Tritt. Ein Weg will in die Stadt und ich nehme ihn mit, so schlendern wir langsam bergab. Die Nutten im Botschaftsviertel haben die Lichter in ihren Wohnmobilen gelöscht. Die meisten Dinge hatten also ihren Platz gefunden, für diese Nacht. Auch der Mond, der sich noch mit ein paar Wolken deckt und sie schlaftrunken zerwühlt.

Die Türe und die Fenster an der Aussenseite des Kulturbüros wurden mit eisernen Läden verhängt. Ladenfläche zu vermieten. Informationen unter, dann eine Telefonnummer. An der Seite des Gebäudes führen drei Stufen zu einem Nebeneingang. Die morsche Holztüre gibt erst nach ein paar Tritten und der Zuhilfenahme einer Eisenstange nach. Ich hänge die Türe wieder vorsichtig hinter mir ein, um nicht die aus dem Schlaf Gerissenen weiter zu irritieren.

Ein ausgeräumter Laden. Nur ein paar Kisten und Kartons und die verstaubte Theke in der Mitte des Raums zeugen noch von etwas Geschäftigkeit, ein paar Wochen zuvor. Und ein altes Sofa, in das ich sinke.

Dranmor IX,1a

(Für den Junimond)

Es muss ein Nachtschwärmer sein, einer von vielen, der nicht auffällt, steigt er hinten in den Wagen ein. Dem Fahrer ist es egal, ob hier jemand einen Fahrschein hat oder nicht, wenn ihm der Samstagmorgen graut und er sich in ein vorgewärmtes Bett legen will, wenn er denn jemanden hätte, der diese Arbeit erledigte.

Die ausgelaufenen Bierdosen, eine rollt in der Mitte des Gangs, die Fussräume hinauf und wieder hinunter, bis ein genervter Fahrgast die Dose tritt und verbiegt und wieder Ruhe einkehrt. Gesenktes Licht. Der junge Tag schiebt sich über ferne Berge. Einer muss niesen. Einer nickt weg und erwacht wieder am Eigerplatz. An der nächsten Station muss er hinaus.

Der Beaumontweg ohne Anzeichen eines inzwischen gewachsenen Berges oder Hügels, aber sanfte Matten entstehen in den gepflegten Vorgärten der Strasse. Alles grünt und blüht und macht sich zurecht für den Junimond, als gäbe es keine anderen Farben. Nur nicht das unangenehme Haus an ihrem Ende: der Patient, der Aussätzige, das Sorgenkind der Siedlung, gestützt, aufgehängt an stählernen Gerüsten, mit hölzernen Latten verstrebt. Hat er sich erkältet? Eine Allergie, etwa? Oder weiter, unter seiner blätternden Haut ebenso marode Substanz? Will man sanieren?

Die Haustüre ist nur angelehnt und lässt sich mit einem sanften Stoss öffnen. Nichts versperrt den Weg. Kein Glasbruch, kein Flaschenmeer, das am Eintreten hindert. Lediglich die Kellertüre ist verschlossen – ein weissrotes Absperrband möchte mich vor weiterem warnen.

Das gehe jetzt aber nicht, dass ich hier eindringe und störe. Dass ich doch wohl sehen könne, dass man sich nur mit äusserster Vorsicht hier im Haus bewegen könne. Und: wer ich denn überhaupt sei und was ich hier wolle. Und: dass es hier Vorschriften gäbe. Auch, wenn ich hier tatsächlich gelebt haben sollte. Bei dem Wort gelebt drücken sich ein paar Untertöne durch.

Eimerweise dunkler, feuchter Bruch steht herum und gibt kaum hörbare Töne von sich. Steinfragmente, mit milchigen Schichten überzogen. Ein Staubnebel steht auf der Höhe der Waden und zieht unschlüssig durch den Gang. Der Handwerker lässt geräuschvoll eine Kelle oder Stange fallen. Es täte ihm ja leid, das müsse hier aber alles entkernt werden. Fast von Grund auf. Die Verwaltung sei davon ausgegangen, dass dieses Haus leerstehe, seit ein paar Monaten. Dass alle Mieter in Ersatzräumlichkeiten umgesiedelt seien, für das nächste halbe Jahr. Man müsse das jetzt machen, jetzt, wo der Sommer beginnt. Aber, soweit man abschätzen könne: bis zum Winter sei es wieder bezugsfertig, das Haus. Und im besonderen: diese Wohnung. Was denn hier passiert sei? Und er weisst auf die Badezimmerdecke und ihre Löcher und den fehlenden Putz.

Man musste doch etwas tun. Man musste doch handeln. Und niemand wusste, wo ich war. Ich sei ja nicht zu erreichen gewesen, soviel er wisse. Aber die Situation unter dem Dach wurde akut. Und natürlich auch in dieser Wohnung. Alles verschlammt und verschleimt, das ganze drohte einzustürzen, also habe man begonnen.

Und also seien sämtliche Sachen dieser Wohnung in den Keller geräumt worden. Ja, auch die dunkelbraune kleine Kiste. Sicher, kein schöner Ort, dort, das wisse man. Aber was hätte man denn tun sollen, man habe doch niemanden fragen können. Und, dort unten sei es, bei aller Dürftigkeit, doch noch ein bisschen besser für den ganzen Schrott.

Er sagte Schrott, den man in Säcke und Kisten geworfen hätte. Man dachte wirklich, hier habe sich einer verabschiedet. Hier sei einer auf Nimmerwiedersehen gegangen.

Eine reine Sicherheitsmassnahme. Die Post. Der Briefkasten wäre ja wohl auch seit Monaten nicht mehr geöffnet worden, sagte man. Und dass sie nicht hier wäre. Und: Das müsse man mit der Hausverwaltung abklären, da könne er gar nichts dazu sagen, aber, ich müsse schon entschuldigen, er müsse weiterarbeiten. Und ob ich nicht die Türe hinter mir schliessen könne.

Im Garten steht eine kleine Mulde und sieht sich schon zur Hälfte gefüllt. Ein aufrichtiger Durst treibt mich an und die Strasse entlang, der Haltestelle entgegen zu meinem kleinen Kiosk. Keine Eisfahne flattert im Wind, und die Kisten mit den alten Schallplatten: nicht vor dem Ladenfenster. An ihrer Stelle Geranien. Kein Licht zeichnet beim Eintritt die Umrisse der Theke, stattdessen schweigende Glocken und unscharfes Grau. Aus dem hinteren Teil: Wir haben noch geschlossen, eine Frauenstimme. Wir öffnen erst um acht. Aber: was ich denn wolle. Wenn es schnell gehe.

Ich wundere mich, wo denn der Blinde sei und der Taubstumme. Ach, das sei eine ganz traurige Geschichte. Schon vor ein paar Wochen sei sie passiert. Der Taube sei plötzlich erblindet. Und dem Blinden habe es daraufhin die Sprache verschlagen. Ein ganz aussergewöhnliches Ereignis. Sie lebten jetzt beide im gleichen Heim. Aber nach dem, was sie gehört hatte, ginge es den beiden den Umständen entsprechend gut. Aber nein, sie sei nicht verwandt mit ihnen, sie führe den Kiosk nur interimistisch für ihre Freundin, bis ein neuer Pächter gefunden sei. Ich bestelle mehrere Appenzeller und verabschiede mich.

Der Tag vergeht auf einen angeketteten Gartenbank auf einem feinen Bürgersteig in der Nähe. Die Nachbarschaft weiss sich zu wandeln, beobachte ich, die Anwohner, Schulkinder, Rentner, Mütter, die erst dann einen Blick riskieren, wenn sie mich schlafend wähnen, um mich bei geschlossenen Augen zu richten. Aussenräume verändern sich, kommt der Mond am späten Mittag ins Spiel. Schrumpfen Paläste zu kleinen Buden, und in der Ferne mein verpilztes Heim zur Fischerhütte am Strand eines kargen Meeres. Nun wird wohl die Arbeit ruhen und der Handwerker es zu Hause seiner Frau besorgen, und ich schleiche zurück, weil ich mich besuchen möchte, oder das, was von mir übriggeblieben ist. Am Gartentor entwickelt sich ein kleines Stück Papier: Ich grüße dich, verlass´nes Fischerhaus / Wie oft von deiner meerbespülten Schwelle / Blickt ich verlangend in die Nacht hinaus / Die tropenwarme, sternenhelle /. Ich befülle es mit Tabak und das Produkt geht in Rauch auf mit dem letzten Wort.

Da ist noch dieses Fenster auf der Rückseite des Hauses. Man konnte sich von dort aus mit etwas Geschick in einen Kellerraum hinunterlassen. Das Gitter davor ist noch immer lose und schiebt sich fast einhändig beiseite.

Dranmor VIII,6

(Das Ambulante)

Ambulante Tage, wenn man sich ruhig verhält. Wenn man lernt oder zu lernen vorgibt, zeigen sich die Medizinmänner versöhnlich und ihrerseits eine gewisse Flexibilität. Kann man Räume kennen lernen, die auch ins Aussen spielen. Einen Innenhof, beispielsweise, der von jemandem Garten genannt wurde und nun im Mai zerrinnt.

Aber der Ruf des Sabia. Eine offene, eine tatsächliche Landschaft mit fast stummen Bewohnern. Und die monotonen Rituale. Morgens zwei. Mittags zwei. Abends drei. Wird schon wieder. Wenn man sich ruhig verhält und die Einnahme vortäuscht, fällt das Interesse ab von der eigenen Person. Ich entsorge die Tabletten nach dem verhaltenen Ausspucken durch einen kleinen Wurf hinter die Mauer.

Ein attraktiver Ort, wie mir versichert wurde. Und so produktiv, ich hätte ja selbst Einblick nehmen können, auch wenn mir das nicht besonders gut getan hätte. Und eine Bibliothek gäbe es auch, und dann und wann ein Orgelkonzert. Später vielleicht. Bald. Und ein kleiner Park, in dem es sich schön kreisen lässt.

Ich trete einen Schritt hinaus aus dem Hof, in diesen Parcour. Grüne Steppe. Ein paar vereinzelte Läufer, denen ich in gebotenem Abstand folge. Man raucht und flüstert. Und die mechanischen Vögel und das manischfrische Gras. Nach einer halben Runde lässt sich die Struktur des Gebäudekomplexes überblicken: zwei ineinander geschachtelte Quadrate. Mehrstöckigkeit. Verwaltung.

Ganz kurz der Eindruck, dass hier ein Gegenteil realisiert wurde. Ein Antibrasilien mit ein paar Antivögeln am Rande der Antistadt.

Stifte, Zettel und Bücher mussten leider weggenommen werden. Sie wollen doch gesund werden. Aber wahrscheinlich: damit dieser Ort nicht schriftlich wird. Man kann daraus einen heimlichen Auftrag ableiten, es doch zu tun. Ich vollende die erste Runde, dann schere ich aus. Zurück ins Gebäude, hier ein bescheidener Gruss und dort und sie sollten hier keine Kugelschreiber herumliegen lassen, wenn Äusserungen nicht erwünscht seien. Man könnte sie gegen sie verwenden. Gegen diesen Ort.

Ob ich denn schon müde sei? Das sei ein gutes Zeichen, aber ich könne, wenn ich wolle gerne noch etwas länger Luft schnappen. Aber wenn ich mich etwas zurückziehen wolle …

In den kleinen Schlauch. In die Gebärmutter. In den florierenden und pulsierenden Darm. Die verwachsene Nische über Wurzeln, Ameisenhaufen, vorbei an tropischen Gewächsen, die Schutz und Rückzug bieten, auf die Pritsche.

Die Fussmatte ist nach reiflicher Beobachtung und Überlegung das beste Versteck. Die tägliche Inspektion ignoriert diesen Teil. Trotzdem riskant, die wenigen gebliebenen Aufzeichnungen, Exzerpte und Teile des Buches darunter zu verstauen. Die nicht mehr Gesammelten Dichtungen, die nun gewaltsam Ausgewählten Dichtungen: ein gefleddertes, ausgedünntes Übriggebliebenes, das noch zu retten war. Und sich so entschlackt aus einem gleichmässig Apokryphen herausschälte: etwa acht Gedichte. Das zum peinlichen Bekenntnis gewordene Vorwort. Das Frontispiz, das allerdings an einer anderen Stelle verborgen wird.

Welche Seite, welche Rückseite muss geopfert werden und graviert, um diesen Ort zu entlassen. Die Exzerpte bieten sich an. Nimm uns, wir sind so frei!. Ich müsse doch nichts auf die vergilbten Blätter füllen. Auf und zwischen die Zeilen und die Lesbarkeit verringern. Hier, genug Raum für uns alle, die Kolonisationsberichte, die sich als geringstes Verlustgeschäft anpreisen. Ich wende sie und versuche einen Titel zu schreiben.

Grosse Enttäuschung. Die Mine ist ausgetrocknet. Anstelle eines harzigen blauen Films gräbt sich ein Loch in das Blatt und die zwei darunter liegenden. Ich muss das Gerät zerlegen. Eine rostige Feder springt heraus und an einem Auge vorbei ins Unterholz. Ein völlig impotentes Instrument, ein stillgelegtes Bergwerk, aus dem nichts mehr herauszupressen ist. Die Einzelteile wandern hinterher in die Büsche.

Die ausgehobenen Löcher lassen sich wieder decken und ich lege das Dossier zusammen mit dem Zufallskanon Dranmors und seinem Vorwort wieder unter die Matte.

Es wird Abend. Die letzten Vögel singen ihr mechanisches Lied und es ist noch mit Besuch zu rechnen.

Die Bäume, der berauschte Mond, ein paar halbe Sterne versuchen sich an einen Namen zu erinnern. Segle nicht wieder fort, / Robin Adair! / Bleibe im sichern Port, / Robin Adair; / Glücklich werden wir sein! / Ja, dieses Herz ist dein: / Laß es nicht mehr allein, / Robin Adair! //. Nein, ich fühle mich nicht angesprochen, beschwichtige die losen Blätter und streiche über die Radierung. Gegen das Fenster, hinaus: Es tue mir leid, ich müsse weg. Und, das müssten sie doch verstehen. Es sei ja nichts auszurichten, hier. Ein anderes Mal, vielleicht. Das Tuten eines Dampfers in der Ferne.

Ich beschränke mich auf das Nötigste. Gehe, wie ich kam, an der ersten Lichtung rechts, und schliesse die Türe lautlos. Ich muss noch mal wo hin – ein Personal nickt. Im sogenannten Garten steht noch etwas Abendluft und verteilt sich langsam hinaus in das Rund des Parks. Meine Hose und das T-Shirt werden ein wenig von einer stachligen Hecke und dem dahinter liegenden Zaun in Mitleidenschaft gezogen. Es ist nicht mehr weit: in der Ferne leuchtet ein Schild mit grossem H.

Dranmor VIII,5b

(Randlingen)

Da kann man ein Brötchen erkennen. Ein zwei weitere, die doch zu essen seien. Man müsse sich doch ernähren. Und die älteren und zerfallenden, die Brosamen, die ringsum lesbare Spuren bilden. Braille? Die ehemalige Hefeklöse umtanzen und verehren und rufen: ihr seid unsere Sonnen, geblendet von der jüngsten Jugend des Frühstücks. Nur das in der Mitte stoisch: Lasst mich in Ruhe, und In der Gedanken Dämmerung verglimm, / Was blenden einst vor einem Geiste stand; / Und immer heller glüht der Sonne Brand, / Des Feuerballs, der mich so trübe stimmt. /

Die anderen Brötchen schweigen betreten. Die Brosamen, die sie umkreisenden Planeten, strahlen weiter vom noch nicht bewucherten Tisch. Tapetenmuster, wo keine waren. Dschungelmuster: überwältigendes Grau, bräunliche Striemen, rote Knospen, da ein paar, und dort; Imperative des sich allmählich verfertigenden Raums.

Eine Ecke entpuppt ein Bildernest, zwei rahmenlose Schreine wilden Malens. Hier eine Skizze, nein ein barockes Gemälde eines ehemaligen Waldbewohners. Ein Gehöft als Waldmittelpunkt und Au, grelles Querformat, die vielen Fenster, die wie Augen auf den Betrachter starren. Outsiderwerk, von hundert Wassern gebleichte Lichtung des Wahnsinns. Das Hier. Randlingen.

Auch hier eine Sonne. Hinter der Mondmaske – vor ihm ein strahlendes Paar. Ein wirklich interessanter Rahmen. Der Wald zur Au.

Daneben: blauer See undatiert, Oel auf Pavatex. Bei längerer Betrachtung das gleiche Motiv. Nur invertiert. Ein Etwas in einem anderen. Wölfli und Steffen, die umgekehrten Vorzeichen als Vorzeigeinsassen Randlingens, wie man versuchte zu erklären. Diejenigen, bei denen man sich nicht ganz sicher war, die es aber doch geschafft hätten, im Nachhinein. Posthum sozusagen, die Medizinmänner nicht ohne Stolz. Wenn es mich interessiere, ja, dort im Regal läge eine wichtige Publikation des Hauses. Die Bilder seien auch darin zu finden, auch einige, die hierin geschrieben hätten.

Was kann man anderes tun als blättern, solange die Sonne scheint und gewiss, dass dieses Buch heute nicht vollständig verschlungen werden würde, und man nie wisse was morgen sei und ob man morgen noch würde lesen können.

Man überfliege. Man gleite über alles, was zu überfliegen wäre, stocke hier und dort, weiche dem einen oder anderen Baum oder Gebäude aus, Vögel flattern dann irritiert auf. Dann lässt man sich in der Erschöpfung auf einem kleinen Hügel nieder, einem Textmonolithen, einer dichten Insel und lese die Zeilen Im Walde, beispielsweise Falls ich nicht sehr im Irrtum bin, / flaniere ich dann her und hin / und mein, ich sei in einem Zimmer, / umwoben von gemaltem Schimmer. /

Dieses Gedicht Walsers sei nicht publiziert worden, der Widerspruch, und hier, vielleicht in diesem Zimmer geschrieben, man wisse es nicht. Man könne es aber auf 1931 datieren.

Oder Das Wenige, das sich selbst schrieb. Hier, In seines hübschen Stübchens Enge / Schrieb er an Büchern ein Menge. Oder die Dinge, die sich noch im Reim übten und sich doch in einem Roman verfingen. Aber die hellen Brötchen, dazu der dunkle Kaffee, verboten, nein, man werde keine Ausnahme machen.

Man schätze auch die letzten drei Zeilen des Archivars, er lächelte ironisch und war tot. Das alles in allem lustige Buch überfliegend. Die Internierten – Klassiker der Schweizer Psychiatrie. Randlinger Meister. Die Enge. Und wenn das Papier knapp wurde, musste man sicherlich kleiner Schreiben. Mussten auch die Rückseiten beschrieben werden. Alles, was beschreibbar war, wurde beschriftet, so dicht, als gelte es am Ende einen grauen Block abzuliefern. Einen erratischen.

Ein rollender Wagen. Gefliesstes Echo. Meine Türe hat keine Klinke. Innen nicht und die Angeln sind im Rahmen versunken. Das kleine Guckloch blind und verklappt. Neugierig: Kommt da ein Brötchen?

Ihm geht Die Zeit behend vorbei, als wenn sie früher schon gewesen sei. Gedichte und Dramolette aus dem Gesamtwerk. 1971. Danach eine andere Randlinger Grösse. Aber die Klappe öffnet sich und ich stelle mich schlafend, denn das beobachtete Wachen ist eine einzige Störung. Ist ein Mord. Ist ein Anstaltsroman. Das Wachen ist eine einzige Prozessunterlage. Die zwei Klappengesichter und ihr Maskenlächeln. Wie ein ganz liebes Kind. Dann eine Psychoanalyse der Dauerschlafherren. Sagen sie das? Wir lassen ihn schlafen oder Er muss schlafen. Und etwas essen! Alle zwölf Brötchen auf einmal. Und die Reste werden eingeatmet. Auf Lunge geraucht, die Restbrötchen. Später. Klappe zu.

Eine Geschichte müsse irgendwo spielen. Die meine spielt im Kanton Bern in einer Irrenanstalt. Was weiter? Man wird wohl noch Geschichten erzählen dürfen? Ich sei hier immerhin in Randlingen und die Personen, die hier auftreten, seien frei erfunden. Und dass dieser Roman keine Schlüsselroman sei.

Und legen Sie doch bitte diesen Schmid weg. Schmid, h-ö-r-e-n-s-i-e-b-i-t-t-e! Einer der so heisse, kann gar nicht geschrieben haben. Da sei jedes Wort darüber kein Wort mehr.

Aber, dass er ja gar nicht so heisse, offiziell. Aber natürlich, Herr Matto, dass er ihretwegen auch anders heisse, oder ganz anders und man ruhig mit seinen Buchstaben würfle. Aber nicht hier in Randlingen, ob ich verstehe, hier drin gibt es sowas nicht und jetzt Her damit! Und die Risse am Einband und der sich spaltende Buchrücken und der Kampf um das Lesebändchen. Einer hat sich verletzt. Eine tiefe Daumenwunde tropft. Ein kleines Geschrei. Das sei nun konfisziert. Das hätte man schon lange tun sollen.

Das trifft nicht besonders. Wesentliche Stellen wurden von mir herausgenommen und in Sicherheit gebracht. ich werde ihnen nicht mein Versteck verraten. Aber sie haben das Fehlen entdeckt! Ein Schlüssel dreht und windet sich von aussen in die Tür.